Liebe braucht keinen Ort
wollte wissen, ob Liza so bald wie möglich »vorbeispringen« könnte. Liza wusste ganz genau, was das zu bedeuten hatte, aber sie musste unwillkürlich lächeln. Es war typisch für Ellie Hart, eine so fröhliche Formulierung zu wählen.
Als Liza ankam, saß ihre alte Freundin aufrecht im Bett undtrug den Seidenschal, den Liza ihr geschenkt hatte. Liza fand, dass sie im wahrsten Sinn des Wortes sorglos aussah – frei von allen Sorgen.
»Bring bitte einen Stuhl zum Bett herüber, Liza. Ich habe nicht mehr die Kraft, meine Stimme durch das ganze Zimmer schallen zu lassen. Ich muss wirklich sagen, dieser Schal ist ein feines Stück für meinen Abgang. Da bin ich um einiges besser angezogen als bei meiner Ankunft.« Sie bemerkte Lizas unsicheren Gesichtsausdruck. »Oh, bitte lass uns lachen, Liza, selbst wenn dieser Witz nicht besonders gut war. Man darf den Tod nicht zu ernst nehmen, nicht in meinem Alter. Weißt du, als ich in deinem Alter war, da war der Tod etwas viel Alltäglicheres. Nur wenige Leute wurden älter als achtzig oder neunzig. Der Tod gehörte zum Leben dazu und die Leute haben ihn sehr viel weniger gefürchtet. Ich bin mir nicht sicher, ob wir der Menschheit einen Gefallen getan haben, indem wir die Lebenszeit immer mehr verlängert haben. Dadurch haben die Leute vergessen, worum es im Leben geht.«
»Worum geht es denn im Leben?«, fragte Liza.
»Nun, das ist natürlich Ansichtssache, aber ich denke, es geht ums Lernen. Lernen, einander zu lieben, die Welt besser zu hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben.«
Liza dachte an die fünfhundert Buddha-Statuen von Borobudur, die alle unterschiedlich waren und doch alle eine heitere Gelassenheit der Weisheit und des Mitgefühls ausstrahlten. Vielleicht sollte ihr Leben auch von Weisheit und Mitgefühl bestimmt werden? Es waren inzwischen drei Wochen vergangen und immer noch kein Wort von David. Vielleicht sollte ihr Leben daraus bestehen, dass sie anderen half und niemals selbst eine Beziehung hatte. Vielleicht hatte sie in David den einen Menschen getroffen, den sie je lieben würde, und es hatte einfachnicht geklappt. Aber sich das vorzustellen, war sehr schwer, wenn man erst siebzehn war und sich so sehr wünschte, geliebt zu werden und eine Zukunft wie alle anderen zu haben.
Diese Gedanken hatte sie wohl laut vor sich hingemurmelt, denn Mrs Hart sagte: »Ah. Kein Wort von dem jungen Mann?«
»Nein.«
»Nun ja, es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.«
Mrs Hart schloss die Augen und schien einzuschlafen. Liza war zufrieden damit, einfach ruhig neben ihr zu sitzen. Im Raum herrschte eine tiefe, beinahe leuchtende Atmosphäre des Friedens. Vielleicht hatte Mrs Hart recht – es war erst vorbei, wenn es vorbei war.
Liza wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte, doch die Sonne leuchtete noch hell, als Mrs Hart die Augen wieder aufschlug.
»Tut mir leid, dass ich eingenickt bin. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, richtig, das Leben. Großes Thema, was?« Sie schloss die Augen wieder und war so lange still, dass Liza schon meinte, sie sei erneut eingeschlafen. Dann plötzlich fasste sie Lizas Hand fester. »Und du warst eine der schönen Überraschungen in meinem Leben, Liza. Wenn man so lange lebt, denkt man, man hätte alles gesehen, was man je erblicken könnte. Aber dich kennenzulernen, das war eine reine Freude. Du bist etwas ganz Besonderes und mir nur umso lieber, weil du gar nicht weißt, wie besonders du bist.«
Liza hatte sich fest vorgenommen, dass sie vor Mrs Hart nicht weinen würde, aber plötzlich spürte sie, wie ihr Tränen in den Augen brannten.
»Ich werde Sie so sehr vermissen!«, sagte sie.
»Oh, du wirst ab und zu von mir hören. Ich bin nicht aus der Welt. Nur eine kleine Adressänderung. Und noch eins, Liza:Ganz gleich, was geschieht, geh mutig mit deinem Leben um. Gib dich nicht mit Kleinem zufrieden. Wenn dir dein Herz sagt, dass etwas richtig ist, dann mach es auch richtig. Denke groß! Setz alles auf eine Karte.
Darum
geht es im Leben wirklich.«
Kapitel 16
Die Feuer von Montgolfier
Seit Mrs Harts Beerdigung war eine Woche vergangen. Liza war nun schon beinahe einen Monat aus Indonesien zurück. In all der Zeit hatte sie nichts von David gehört, und auch ihre Versuche, Mia zu finden, waren erfolglos gewesen. Allmählich schwand ihre Erwartung, ihn jeden Moment auf der Straße auf sich zugehen zu sehen, und es blieb nur ein dumpfer, allgegenwärtiger Schmerz in ihrer Brust. Manchmal
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