LIEBE DEINEN NÄCHSTEN Noah Fitz Thriller (German Edition)
das schwache Licht war ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Jochen, sie hoffte inständig, dass ihre innere Stimme sie jetzt nicht enttäuschen würde, sie rechnete dennoch mit dem Schlimmsten.
„Jochen lebt, wir werden ihn finden.“ Ruhig und emotionslos wandte sie sich an ihren zermürbten Kollegen. Lisa schämte sich ein bisschen für ihre pessimistische Einstellung, der Gedankenfluss an den schlimmen Ausgang blieb jedoch tief in ihrem Innersten verborgen und versiegelt wie ein Brief an den Papst. „Schau mal. Wir sehen auf dem Bild nichts, wo du sagen könntest, es sei definitiv dein Sohnemann. Der Kopf hängt tief nach vorne gebeugt, das Licht flutet als Hintergrund die Sicht, die Kamera kann die grellen Sonnenstrahlen nicht verdrängen, dadurch sehen wir mehr oder weniger die Silhouette eines Mannes, der deinen Sohn verkörpern soll.“
'Verkörpern soll? Habe ich gerade all das gesagt, klang es überhaupt glaubhaft?' Lisa blieb stoisch und ließ sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Auch nicht von dem nagenden schlechten Gewissen, das sie im Moment plagte.
„Warum hatte er den Handrücken rasiert?“
Lisa war dankbar, dass ihr Partner sie aus dem Gedankenwirrwarr zurück holte. Ihr Kopf war im Moment nur mit Stroh gefüllt, ihr Schädel fühlte sich leicht und leer zugleich an.
„Vielleicht wollte er ... vielleicht ...“
„Genau, er wollte die Hand eines Fremden für die meines Sohnes verkaufen. Lisa, du bist ein Schatz. Es tut mir zwar für den jungen Mann leid, aber der Gedanke gefällt mir viel besser.“ Sein Gesicht gewann wieder an Farbe, die gesunde Röte kam wieder zurück. „Er hatte die Haare nur entfernt, damit ich die Hand als die meines Kindes annehme. Mein Sohn ... er hat keine ...“ Raphael verschluckte sich vor lauter Euphorie bei jedem Wort. Lisa schmunzelte innerlich.
„Du meinst, er ist nicht sonderlich behaart?“ Sie fühlte sich verpflichtet, ihrem Partner ohne zu zögern unter die Arme zu greifen. Und ihn aus dem Sumpf der Trostlosigkeit herauszuziehen.
„Mein Sohn kommt nach seiner Mutter. Als Teenager hatte er panische Angst um seine Männlichkeit gehabt“, ein nostalgisches Lächeln huschte über sein müdes, mit dünnen Falten überzogenes Gesicht, „er konnte es nicht abwarten, wann nun endlich der Tag der ersten Rasur kommen würde.“
„Also haben wir es h ier mit jemandem zu tun, der dich zu etwas zwingen will ...“ Lisa wollte sich im Augenblick keine Erinnerungsgeschichten anhören, ansonsten hörte sie gern zu, jetzt war es aber nicht sehr hilfreich und sehr unpassend.
„Oder er will sich an mir rächen, was noch schlimmer ist“, unterbrach sie ihr Partner.
In dem Treppenhaus wurde es auf einmal sehr stickig und heiß. Ein grelles Licht nahm von den beiden Besitz. Es waren die heißen Sonnenstrahlen, die durch das nicht ganz saubere Fenster eine böse Botschaft in sich trugen.
Raphaels Handy klingelte.
„Ja, Graziano, wir kommen ...“, er wollte schon auflegen, erschrocken blieb er mitten im Satz stumm, „…was? Graziano, bleib dort, wo du bist! Wir kommen sofort!“ Mit einer Kopfbewegung zur Treppe signalisierte er seiner Partnerin, dass es an der Zeit war, sich in Bewegung zu setzen, und zwar schnell. Raphael hielt das Handy immer noch an seinem Ohr.
„Ja, Graziano, es tut mir leid. Was steht da, sagst du?“ Raphael starrte ins Leere. „RACHE“, wiederholte er die fünf Buchstaben, als wären sie der Code zu einer geheimen Tür, leise, dennoch sehr deutlich. Kommissarin Lisa Glück sah die einzelnen Buchstaben vor ihrem inneren Auge als große rote Lettern, die sich für immer in ihre Erinnerung einbrannten.
Lisa lief es kalt den Rücken herunter. Also waren die schlimmsten Befürchtungen wahr geworden. Jemand wollte sich an den beiden rächen, das war ihre Schlussfolgerung aus der mehr als dürftigen Information.
„Raphael, dein letzter ungelöste Fall, kann der damit in Verbindung gebracht werden? Steht es irgendwie im Zusammenhang zu dem Ganzen hier? Was ist damals eigentlich passiert? Du schweigst über die Sache, als wäre es für dich peinlich, darüber zu reden.“ Ihre Worte klangen abgehackt, und sie musste immer wieder Luft holen, da sie bei schnellem Tempo die Treppen herunter sausten, was Lisa sehr selten und vor allem sehr ungern tat. Ihre Schritte polterten laut, eine erschrockene alte Dame lugte durch einen Türspalt, als sie die beiden sah, zog sie energisch die Tür wieder zu. Die kurze Ablenkung ließ Lisa
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