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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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ja, kommt nur mit!« Sie gingen die Treppen hinunter. Draußen drehte Steiner sich um und sah zu der grauen, abgeblätterten Front des Hotels hinüber. »Verdun …«, murmelte er.
      »Laß mich deinen Koffer tragen«, sagte Kern.
      »Wozu, Baby? Ich kann es selbst ganz gut.«
      »Gib ihn mir«, sagte Kern mit einem verzerrten Lächeln. »Ich habe dir heute nachmittag gezeigt, wie kräfig ich geworden bin.«
      »Ja, das hast du. Heute nachmittag. Wie lange das her ist!«
      Steiner gab ihm den Koffer. Er wußte, daß Kern etwas für ihn tun wollte und daß es nichts anderes gab als dieses wenige: den Koffer für ihn zu tragen.
      Sie kamen gerade zur Abfahrt des Zuges zurecht. Steiner stieg ein und ließ das Fenster herunter. Der Zug stand noch; aber Steiner schien den dreien auf dem Bahnsteig durch das Fenster schon auf eine unwiderrufliche Weise von ihnen getrennt. Kern sah mit brennenden Augen auf das harte, hagere Gesicht; er wollte es sich einprägen für sein ganzes Leben. Es hatte ihn viele Monate begleitet und war sein Lehrer gewesen; was an ihm selbst abgehärtet worden war, das verdankte er Steiner. Und jetzt sah er dieses Gesicht, beherrscht und ruhig, freiwillig in seinen Untergang gehen; denn niemand von allen rechnete mit dem Wunder, daß Steiner zurückkäme.
      Der Zug fuhr an. Niemand sprach ein Wort. Steiner hob langsam die Hand. Die drei auf dem Bahnhof sahen ihm nach, bis die Wagen hinter einer Kurve verschwanden.
      »Verdammt!« sagte Marill schließlich heiser. »Kommt, ich muß einen Schnaps haben. Ich habe viele Menschen sterben sehen, aber ich war noch nie dabei, wenn jemand Selbstmord verübte.«
      Sie kehrten zum Hotel zurück. Kern und Ruth gingen in Ruths Zimmer. »Ruth«, sagte Kern nach einer Weile, »es ist plötzlich leer und man friert – als wäre die ganze Stadt ausgestorben.«

    ABENDS BESUCHTEN SIE Vater Moritz. Er lag jetzt im Bett und konnte nicht mehr aufstehen. »Setzt euch, Kinder«, sagte er. »Ich weiß schon alles. Es ist nichts daran zu tun. Jeder Mensch hat das Recht, sein Schicksal zu bestimmen.«
      Moritz Rosenthal wußte, daß er nie mehr aufstehen würde. Er hatte deshalb sein Bett so stellen lassen, daß er aus dem Fenster sehen konnte. Es war nicht viel, was er erblickte: nur ein Stück der Häuserreihe gegenüber. Aber da er sonst nichts hatte, wurde es viel. Er sah die Fenster auf der anderen Seite, und sie wurden für ihn der Inbegriff des Lebens. Er sah sie morgens, wenn sie geöffnet wurden, er sah die Gesichter in ihnen erscheinen, er kannte das verdrossene Mädchen, das die Scheiben putzte, die müde junge Frau, die nachmittags fast regungslos hinter der weggeschobenen Gardine saß und auf die Straße starrte, und den Kahlkopf im oberen Stock, der abends bei offenem Fenster turnte. Er sah nachmittags das Licht hinter den herabgelassenen Vorhängen erscheinen, er sah Schatten hin und her wandern, er sah Abende, wo alles dunkel lag, wie eine verlassene Höhle, und andere, wo die Lichter lange brannten. Das und der gedämpfe Lärm der Straße war für ihn die Welt draußen, zu der nur noch seine Gedanken, nicht mehr sein Körper gehörten – die andere, die Welt der Erinnerungen, hatte er in seinem Zimmer an den Wänden. Mit seiner letzten Kraf und mit Hilfe des Zimmermädchens hatte er alle Fotografien und Bilder, die er besaß, mit Reißnägeln dort befestigt.
      An der Wand über dem Bett hingen verblichene Fotografien seiner Familie; seiner Eltern, seiner Frau, die vor vierzig Jahren gestorben war, das Bild eines Enkels, der mit siebzehn Jahren gestorben war; das Bild der Schwiegertochter, die nur fünfunddreißig Jahre alt geworden war – Tote, zwischen denen Moritz Rosenthal uralt und gelassen selbst den Tod erwartete.
      Die Wand gegenüber war mit Landschafsbildern bedeckt, Fotos vom Rhein, von Burgen, Schlössern und Weinbergen, bunte Ausschnitte aus Zeitungen dazwischen, Sonnenaufgänge und Gewitter über dem Rhein, und zum Schluß eine Serie von Bildern aus dem Städtchen Godesberg am Rhein.
      »Ich kann mir nicht helfen«, sagte Moritz Rosenthal verlegen, »ich sollte eigentlich Bilder aus Palästina hier hängen haben; wenigstens ein paar dazwischen, aber ich mache mir nichts draus.«
      »Wie lange haben Sie in Godesberg gelebt?« fragte Ruth.
      »Bis zu meinem achtzehnten Jahre. Dann zogen wir weg.«
      »Und später?«
      »Später war ich nie wieder da.«
    »Das ist lange her, Vater Moritz«, sagte

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