Liebe deinen nächsten
sinnlos«, erklärte er. »Es hilf ihm und Ihnen nichts. Wir haben jemand in der Präfektur, der aufpaßt. Bleiben Sie hier!«
»Wie kann ich das? Ich kann ihn doch noch sehen! Sie sollen mich mit einsperren! Dann gehen wir zusammen über die Grenze!« Marill hielt sie fest. Sie war wie eine zusammengezogene Stahlfeder. Ihr Gesicht war blaß, und es schien kleiner geworden vor Anspannung. Dann gab sie plötzlich nach. »Marill …«, sagte sie hilflos, »was soll ich tun?«
»Hierbleiben. Klassmann ist auf der Präfektur. Er wird uns sagen, was passiert. Man kann ihn nur ausweisen. Dann ist er in ein paar Tagen wieder da. Ich habe ihm versprochen, daß Sie hier warten. Er weiß, daß Sie vernünfig sein werden.«
»Ja, das will ich.« Ihre Augen waren voll Tränen. Sie zog ihren Mantel aus und ließ ihn zu Boden fallen. »Marill«, sagte sie, »weshalb macht man das alles mit uns? Wir haben doch niemandem etwas getan!«
Marill sah sie nachdenklich an. »Ich glaube, das ist der ganze Grund«, sagte er. »Tatsächlich, ich glaube, das ist es.«
»Wird man ihn ins Gefängnis bringen?«
»Ich glaube nicht. Wir werden das durch Klassmann erfahren. Wir müssen bis morgen warten.«
Ruth nickte und nahm ihren Mantel langsam vom Boden wieder auf. »Hat Ihnen Klassmann sonst nichts gesagt?«
»Nein. Ich habe ihn nur einen Moment gesprochen. Er ist dann gleich zur Präfektur gegangen.«
»Ich war heute vormittag mit ihm da. Man hatte mich hinbestellt.« Sie nahm ein Papier aus ihrer Manteltasche, strich es glatt und gab es Marill. »Deshalb.«
Es war eine Aufenthaltserlaubnis für Ruth, gültig für vier Wochen. »Das Flüchtlingskomitee hat es durchgesetzt. Ich hatte ja noch einen abgelaufenen Paß. Klassmann kam heute mit der Nachricht. Er hat all die Monate daran gearbeitet. Ich wollte es Ludwig zeigen. Deshalb habe ich auch die Blumen hier auf dem Tisch.«
»So, deshalb!« Marill hielt den Schein in der Hand. »Es ist ein verfluchtes Glück und ein verdammtes Elend gleichzeitig«, sagte er. »Aber mehr ein Glück. Dies hier ist eine Art Wunder. Das kommt nicht leicht wieder. Aber Kern kommt wieder. Glauben Sie das?«
»Ja«, sagte Ruth. »Das eine geht nicht ohne das andere. Er muß wiederkommen!«
»Gut. Und jetzt gehen Sie mit mir hinaus. Wir essen irgendwo. Und wir werden etwas trinken – auf die Aufenthaltserlaubnis und auf Kern. Er ist ein erfahrener Soldat. Wir alle sind Soldaten. Sie auch. Habe ich recht?«
»Ja.«
»Kern würde sich fünfzigmal mit Jubel ausweisen lassen für das, was Sie da in der Hand halten, das wissen Sie doch?«
»Ja, aber ich würde hundertmal lieber nicht …«
»Ich weiß«, unterbrach Marill. »Darüber reden wir, wenn er wieder da ist. Das ist eine der ersten Soldatenregeln.«
»Hat er Geld, um zurückzufahren?«
»Das nehme ich an. Als alte Kämpfer haben wir immer so viel bei uns für den Notfall. Wenn er nicht genug hat, schmuggelt Klassmann den Rest hinein. Er ist unser Vorposten und unsere Patrouille. Und nun kommen Sie! Manchmal ist es verdammt gut, daß es Schnaps gibt auf der Welt. In der letzten Zeit besonders!«
STEINER WAR SEHR wach und gespannt, als der Zug an der Grenze hielt. Die französischen Zollbeamten gingen gleichgültig und rasch durch. Sie fragten nach dem Paß, stempelten ihn und verließen das Abteil. Der Zug fuhr wieder an und rollte langsam weiter. Steiner wußte, daß in diesem Augenblick sein Schicksal entschieden war; er konnte nicht mehr zurück.
Nach einer Weile kamen zwei deutsche Beamte und grüßten. »Bitte Ihren Paß.«
Steiner nahm das Hef und gab es dem jüngeren, der gefragt hatte. »Wozu reisen Sie nach Deutschland?« fragte der andere.
»Ich will Verwandte besuchen.«
»Leben Sie in Paris?«
»Nein, in Graz. Ich habe in Paris einen Verwandten besucht.«
»Wie lange wollen Sie in Deutschland bleiben?«
»Ungefähr vierzehn Tage. Dann fahre ich wieder nach Graz zurück.«
»Haben Sie Devisen bei sich?«
»Ja. Fünfundert Francs.«
»Wir müssen das in den Paß eintragen. Haben Sie das Geld aus Österreich mitgebracht?«
»Nein, ein Vetter in Paris hat es mir gegeben.«
Der Beamte betrachtete den Paß, dann schrieb er etwas hinein und stempelte ihn.
»Haben Sie etwas zu verzollen?« fragte der andere.
»Nein, nichts.« Steiner nahm seinen Koffer herunter.
»Haben Sie noch großes
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