Liebe deinen nächsten
Ruth.
»Ja, da warst du noch nicht auf der Welt. Vielleicht wurde deine Mutter damals erst geboren.«
Sonderbar, dachte Ruth, meine Mutter wurde geboren, als diese Bilder schon Erinnerungen waren im Gehirn hinter dieser Stirn vor mir, und sie hat ihr schweres Leben gelebt und ist ausgelöscht worden. Immer noch geistern dieselben Erinnerungen hinter dieser alten Stirn, als wären sie stärker als manches Leben.
Es klopfe.
Edith Rosenfeld trat ein. »Edith«, sagte Moritz Rosenthal, »meine ewige Liebe! Woher kommst du?«
»Von der Bahn, Moritz. Ich habe Max fortgebracht. Er fährt nach London und von da nach Mexiko.«
»Dann bist du jetzt allein, Edith …«
»Ja, Moritz, jetzt habe ich sie alle untergebracht, und sie können arbeiten.«
»Was soll Max in Mexiko machen?«
»Er geht als Arbeiter. Aber er will versuchen, in den Autohandel zu kommen.«
»Du bist eine gute Mutter, Edith«, sagte Moritz Rosenthal nach einer Weile.
»Ich bin wie jede, Moritz.«
»Was wirst du jetzt tun?«
»Ich werde mich etwas ausruhen. Dann habe ich wieder Arbeit. Es gibt ein Baby hier im Hotel. Vor vierzehn Tagen geboren. Die Mutter muß bald wieder arbeiten. Da werde ich zur AdoptivGroßmutter.«
Moritz Rosenthal richtete sich ein wenig auf. »Ein Baby? Vierzehn Tage alt? Das ist dann ja schon ein Franzose! Habe ich mit achtzig Jahren nicht geschaf.« Er lächelte. »Kannst du es denn in den Schlaf singen, Edith?« – »Ja.«
»Mit den Liedern, mit denen du meinen Sohn damals in den Schlaf gesungen hast. Es ist lange her, Edith. Alles ist plötzlich so lange her. Willst du mir nicht wieder einmal eines davon vorsingen? Manchmal bin ich auch schon wie ein Kind, das schlafen möchte.«
»Welches denn, Moritz?«
»Das Lied vom armen Judenkind. Es ist vierzig Jahre her, daß du es gesungen hast. Du warst sehr schön und jung damals. Du bist immer noch schön, Edith.«
Edith Rosenfeld lächelte. Dann richtete sie sich ein wenig auf und begann mit ihrer brüchigen Stimme ein altes jiddisches Lied zu singen. Ihre Stimme klirrte etwas, wie die dünne Melodie einer alten Spieldose. Moritz Rosenthal legte sich zurück und lauschte. Er schloß die Augen und atmete ruhig. Leise sang die alte Frau in dem kahlen Raum die schwermütige Melodie der Heimatlosigkeit und die traurigen Worte dazu:
»Rosinkes und Mandele,
Das wird sein dein Beruf –
Domit wirst müsse, Jiddele, handele –
Schluf, Jiddele, schluf –«
Ruth und Kern saßen schweigend und hörten zu. Über ihren Köpfen rauschte der Wind der Zeit – vierzig Jahre, fünfzig Jahre wehten im Gespräch der alten Frau mit dem alten Mann vorüber, und es erschien den beiden Alten als selbstverständlich, daß sie vergangen waren. Aber mitten darin hockten die beiden zwanzigjährigen Leben, für die ein Jahr schon etwas Unendliches und fast Unausdenkbares war, und sie spürten etwas wie eine schattenhafe Angst: daß alles verging und vergehen mußte und daß es auch nach ihnen einmal greifen würde …
Edith Rosenfeld stand auf und beugte sich über Moritz Rosenthal. Er schlief. Sie betrachtete das große Greisengesicht eine Zeitlang. »Kommt«, sagte sie dann, »wir wollen ihn schlafen lassen.«
Sie löschte das Licht aus, und sie gingen ohne Geräusch hinaus auf den finsteren Korridor und tappten zu ihrem Zimmer hinüber.
KERN FUHR GERADE eine schwere Karre voll Erde vom Pavillon fort zu Marill hinüber, als er von zwei Herren angehalten wurde.
»Einen Moment, bitte! Sie auch«, sagte der eine zu Marill.
Kern stellte umständlich die Karre zu Boden. Er wußte, was los war. Diesen Ton kannte er; in der ganzen Welt wäre er sofort aus tiefstem Schlaf aufgesprungen, wenn er diesen leisen, höflichen und unerbittlichen Ton neben seinem Bett gehört hätte.
»Wollen Sie uns, bitte, Ihre Ausweispapiere zeigen?«
»Ich habe sie nicht bei mir«, erwiderte Kern.
»Wollen Sie uns vorher, bitte, Ihre Ausweispapiere zeigen?« sagte Marill.
»Aber gewiß, gern! Hier, das genügt wohl, nicht wahr? Polizei. Der Herr ist Kontrolleur des Arbeitsministeriums. Sie verstehen: die große Anzahl französischer Arbeitsloser zwingt uns zu einer Kontrolle …«
»Ich verstehe, mein Herr. Ich kann Ihnen leider nur eine Aufenthaltserlaubnis zeigen; eine Arbeitserlaubnis habe ich nicht; Sie haben sie auch sicher nicht erwartet …«
»Sie haben ganz recht, mein Herr«, sagte
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