Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
Gepäck?«
      »Nein, dieses hier ist alles.«
      Der Beamte sah flüchtig in den Koffer. »Haben Sie Zeitungen, Drucksachen oder Bücher bei sich?«
      »Nichts.«
      »Danke.« Der jüngere Beamte gab Steiner den Paß zurück. Beide grüßten und gingen. Steiner atmete auf. Er merkte plötzlich, daß er naß von Schweiß war.
      Der Zug begann schneller zu fahren. Steiner lehnte sich zurück und blickte durch die Scheiben. Draußen war es Nacht, Wolken zogen rasch und niedrig über den Himmel, und dazwischen blinkten die Sterne. Kleine, halb erleuchtete Bahnhöfe flogen vorüber. Die roten und grünen Lichter der Signale huschten vorüber, und die Schienen glänzten. Steiner ließ das Fenster herunter und sah hinaus. Der feuchte Fahrtwind riß an seinem Gesicht und an seinen Haaren. Er atmete tief; es schien eine andere Luf zu sein. Es war ein anderer Wind, es war ein anderer Horizont, es war ein anderes Licht, die Pappeln an den Straßen bogen sich anders und vertrauter, die Straßen selbst führten ir gendwo in sein Herz – er atmete tief, es war ihm heiß, sein Blut klopfe, die Landschaf hob sich und sah ihn an, rätselhaf und doch nicht mehr fremd – verdammt, dachte er, was ist das, ich werde sentimental! Er setzte sich wieder hin und versuchte zu schlafen – aber er konnte es nicht. Die dunkle Landschaf draußen lockte und rief, sie wurde zu Gesichtern und Erinnerungen, die schweren Jahre des Krieges standen wieder auf, als der Zug über die Rheinbrücke donnerte; das Wasser, schillernd und mit dumpfem Rauschen dahintreibend, warf hundert Namen hoch, verschollene, tote, fast schon vergessene Namen, Namen von Regimentern und Kameraden, von Städten und Lagern, Namen aus der Nacht der Jahre, es war ein Anprall, und Steiner stand plötzlich im Sturm seiner Vergangenheit und wollte sich wehren und konnte es nicht.
      Er war allein im Abteil. Er zündete eine Zigarette nach der anderen an und wanderte hin und her in dem kleinen Raum. Er hatte nicht geglaubt, daß alles noch eine solche Gewalt über ihn haben könnte. Krampfaf begann er sich zu zwingen, an morgen zu denken, daran, wie er versuchen mußte, durchzukommen, ohne Aufsehen zu erregen, an das Krankenhaus, an seine Lage, und wen von seinen Freunden er aufsuchen und fragen könnte.
      Aber all das erschien ihm im Augenblick sonderbar neblig und unwirklich – es entwich ihm, wenn er es fassen wollte, sogar die Gefahr, in der er schwebte und der er entgegenfuhr, verblich zu einer abstrakten Vorstellung, sie hatte keine Kraf, sein zitterndes Blut kühl und zum Nachdenken zu zwingen, im Gegenteil, sie peitschte es mit auf zu einem Wirbel, in dem sich sein Leben wie in einem dunklen Tanz und einer mystischen Wiederkehr zu drehen schien. Da gab er es auf. Er wußte, es war die letzte Nacht; morgen würde alles überschattet sein von dem andern – es war die letzte reine Nacht im Ungewissen, im Sturm des Gefühls, es war die letzte Nacht ohne das grausame Wissen und die Klarheit des Verderbens. Er gab es auf, zu denken. Er gab sich hin.
      Die Nacht entfaltete sich groß vor dem Fenster des dahinjagenden Zuges. Sie war ohne Ende, sie entfaltete sich über vierzig Jahre eines Mannes und über sein Leben, für das vierzig Jahre die Ewigkeit bedeuteten. Die Dörfer, die vorüberglitten, mit wenigen Lichtern und vereinzeltem Hundelaut, waren alle die Dörfer seiner Kindheit – er hatte in allen gespielt, über alle waren seine Sommer und Winter dahingegangen, und die Glocken ihrer Kapellen hatten überall für ihn geläutet. Die Wälder, die schwarz und verschlafen vorüberflogen, waren alle die Wälder seiner Jugend – ihr grüngoldenes Dämmer hatte seine ersten Streifzüge überschattet, in ihren glatten Teichen hatte sich sein atemloses Gesicht gespiegelt, wenn er das Leben der gefleckten Molche mit den roten Bäuchen belauerte – und der Wind, der in den Buchen harfe und in den Tannen sang, war der uralte Wind der Abenteuer gewesen. Die matt leuchtenden Straßen, die wie ein Netz die mächtigen Felder überspannten, waren alle die Straßen seiner Unruhe gewesen, er war auf ihnen allen gewandert, er hatte an ihren Kreuzungen gezögert, er kannte ihren Abschied und ihre Hoffming und ihre Wiederkehr von Horizont zu Horizont, er kannte ihre Meilensteine und die Gehöfe, die an ihnen lagen. Und die Häuser, unter deren Dächern geduckt das Licht gefangen war und wie die Verheißung von Wärme und Heimat rötlich aus den Fenstern leuchtete; er

Weitere Kostenlose Bücher