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Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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hatte in jedem ihrer Fenster gewohnt, er kannte den sanfen Druck der Türklinken, er wußte, wer unter dem Lampengrund wartete, die Stirn ein wenig gesenkt, das goldene, feuerfarbene Haar übersprüht von Funken – sie, deren Gesicht überall gestanden und gewartet hatte, an allen Straßen und in allen Winkeln der Welt, verdunkelt manchmal und of fast unsichtbar, überflutet von Sehnsucht und Vergessenwollen, das Antlitz seines Lebens, dem er nun entgegenfuhr, das Gesicht, das sich jetzt über den Nachthimmel ausbreitete, die Augen, die hinter den Wolken schimmerten, der Mund, der vom Horizont her lautlose Worte sprach, die Arme, die er schon fühlte im Wind, im Wehen der Bäume, und das Lächeln, in dem die Landschaf und sein Herz versanken im Ansturm des unendlichen Gefühls.
      Er spürte, wie seine Adern schmolzen und sich öffneten, wie sein Blut hinauszuströmen schien in den verklärten Strom, der draußen flutete und es aufnahm und stärker mit ihm zurückkehrte, der seine Hände trug und sie mit sich nahm zu fernen Händen, die sich ihm entgegenstreckten, diesen kreisenden Strom, der Stück um Stück von ihm wegbröckelte und wegschwemmte, der seine Vereinzelung löste wie ein Wildwasser im Frühjahr eine Eisscholle und der ihm in dieser einzigen, endlosen Nacht das einsame Glück der Allverbundenheit gab und ihm alles an die Brust schwemmte: Sein Leben, die verlorenen Jahre, den Glanz der Liebe und das tiefe Wissen um die Wiederkehr, jenseits der Zerstörung.

    20 Steiner kam morgens um elf Uhr an. Er ließ seinen Koffer in der Aufewahrungsstelle für Gepäck und ging sofort zum Krankenhaus. Er sah die Stadt nicht; er sah nur etwas, das an ihm zu beiden Seiten vorbeitrieb, eine Flut von Häusern, Wagen und Menschen.
      Vor dem großen, weißen Bau blieb er stehen. Er zögerte eine Weile. Er starrte auf das weite Portal und die endlosen Reihen der Fenster, Stock über Stock. Irgendwo dort – aber vielleicht auch nicht mehr. Er biß die Zähne zusammen und trat ein.
      »Ich möchte mich erkundigen, wann Besuchsstunde ist«, sagte er im Anmeldebüro.
      »Für welche Klasse?« fragte die Schwester.
      »Das weiß ich nicht. Ich komme zum erstenmal.«
      »Zu wem wollen Sie?«
      »Zu Frau Marie Steiner.«
      Steiner wunderte sich einen Augenblick, als die Schwester gleichgültig ein dickes Buch nachschlug. Er hatte fast erwartet, die weiße Halle müsse zusammenstürzen, oder die Schwester müsse aufspringen und jemand rufen, eine Wache oder Polizei, als er den Namen aussprach.
      Die Schwester blätterte. »Patienten erster Klasse können jederzeit Besuch empfangen«, sagte sie, während sie suchte.
      »Es wird nicht erster Klasse sein«, erwiderte Steiner. »Vielleicht dritter.«
      »Für dritte Klasse ist Besuchsstunde von drei bis fünf.«
      Die Schwester suchte und suchte. »Wie war doch der Name?« fragte sie.
      »Steiner, Marie Steiner.« Steiner hatte plötzlich einen trockenen Hals. Er starrte die hübsche, puppenhafe Schwester an, als käme sein Todesurteil. Er wartete darauf, daß sie sagen würde: Gestorben.
      »Marie Steiner«, sagte die Schwester, »zweite Klasse. Zimmer fünfundertfünf, fünfer Stock. Besuchsstunde von drei bis sechs Uhr.«
      »Fünfundertfünf. Danke vielmals, Schwester.«
      »Bitte, mein Herr!«
      Steiner blieb stehen. Die Schwester griff nach dem summenden Telefon. »Haben Sie noch eine Frage, mein Herr?«
      »Lebt sie noch?« fragte Steiner.
      Die Schwester legte das Telefon nieder. In der Muschel quakte eine leise, blecherne Stimme weiter, als wäre das Telefon ein Tier.
      »Natürlich, mein Herr«, sagte die Schwester und blickte in ihr Buch. »Sonst wäre doch ein Vermerk hinter ihrem Namen. Die Abgänge werden immer pünktlich gemeldet.«
      »Danke.«
      Steiner zwang sich, nicht zu fragen, ob er sofort hinaufgehen könne. Er fürchtete, daß man wissen wolle, weshalb, und er mußte jedes Aufsehen vermeiden. Deshalb ging er. Er wanderte ziellos durch die Straßen, immer wieder in größeren Kreisen am Hospital vorbei. Sie lebt, dachte er. Mein Gott, sie lebt! Dann überfiel ihn plötzlich die Angst, jemand könnte ihn erkennen, und er suchte eine abgelegene Kneipe, um dort zu warten. Er bestellte etwas zu essen, aber er konnte nichts hinunterkriegen.
      Der Kellner sah ihn befremdet an. »Schmeckt es Ihnen nicht?«
      »Doch, es ist gut. Aber bringen Sie mir vorher einen Kirsch.«
      Er zwang sich, die

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