Liebe deinen nächsten
wartete noch ein paar Minuten. Als alles still blieb und nur noch das tiefe Atmen im Dunkel zu hören war, griff er lautlos nach seinen Sachen und schlich vorsichtig aus dem Zimmer.
Auf dem Korridor stand jetzt ein Mann im Hemd. Er stand vor dem Zimmer, in dem Kern wohnte, und starrte ihn durch eine Brille an. Er beobachtete, wie er mit seinen Sachen aus dem Zimmer nebenan kam. Kern war zu verwirrt, um etwas zu erklären. Er ging wortlos durch die offene Tür, an dem Mann vorbei, der ihm keinen Platz machte, packte seine Sachen weg und legte sich zu Bett. Vorher strich er zur Vorsicht über die Decke. Es lag niemand darunter.
Der andere Mann stand noch eine Weile im Türausschnitt. Seine Brille blinkte im schwachen Licht des Korridors. Dann kam er herein und machte die Tür mit einem trockenen Knack zu.
Im selben Augenblick fing das Schreien wieder an. Kern verstand es jetzt. »Nicht schlagen! Nicht schlagen! Um Christi willen, nicht schlagen! Bitte, bitte! Oh …«
Das Schreien ging in ein entsetzliches Gurgeln über und erstarb. Kern richtete sich auf. »Was ist denn das?« fragte er in das Dunkel hinein.
Ein Schalter klickte, und es wurde hell. Der Mann mit der Brille stand auf und ging zum dritten Bett. Darin lag ein keuchender, schweißüberströmter Mensch mit irren Augen. Der andere nahm ein Glas, füllte es mit Wasser und hielt es dem im Bett an den Mund. »Trinken Sie das mal. Sie haben geträumt. Sie sind in Sicherheit.«
Der Mann trank gierig. Der Adamsapfel an seinem dünnen Halse stieg auf und ab. Dann ließ er sich erschöpf zurückfallen und schloß tief atmend die Augen.
»Was ist das?« fragte Kern noch einmal.
Der Mann mit der Brille kam an sein Bett. »Was das ist? Jemand, der träumt. Laut träumt. Vor ein paar Wochen aus dem Konzentrationslager entlassen. Nerven, verstehen Sie?«
»Ja«, sagte Kern.
»Wohnen Sie hier?« fragte der Mann mit der Brille.
Kern nickte. »Ich scheine auch etwas nervös zu sein. Vorhin, als er schrie, bin ich hinausgelaufen. Ich dachte, es wäre Polizei im Hause. Da habe ich hinterher die Zimmer verwechselt.«
»Ach so …»
»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte der dritte Mann. »Ich werde jetzt wach bleiben. Entschuldigen Sie.«
»Ach, Unsinn!« Der mit der Brille ging zu seinem Bett zurück. »Das bißchen Träumen stört uns gar nicht. Nicht wahr, junger Mann?«
»Gar nicht«, wiederholte Kern.
Der Lichtschalter knackte, und es wurde wieder dunkel. Kern streckte sich aus. Er konnte lange nicht einschlafen. Sonderbar war das gewesen, vorhin, in dem Zimmer nebenan. Die weiche Brust unter dem dünnen Leinen. Er fühlte es immer noch … als wäre seine Hand anders geworden dadurch.
Später hörte er, wie der Mann, der geschrien hatte, aufstand und sich ans Fenster setzte. Sein gebeugter Kopf hob sich schwarz vor dem heraufdämmernden Grau des Morgens ab – wie das finstere Monument eines Sklaven. Kern betrachtete ihn eine Zeitlang. Dann überfiel ihn der Schlaf.
Josef Steiner kam leicht über die Grenze zurück. Er kannte sie gut und war als alter Soldat das Patrouillegehen gewohnt. Er war Kompanieführer gewesen und hatte bereits 95 für eine schwierige Patrouille, von der er einen Gefangenen mitgebracht hatte, das Eiserne Kreuz erhalten.
Nach einer Stunde war er außer Gefahr. Er ging zum Bahnhof. Es waren nicht viele Leute im Wagen. Der Schaffner sah ihn an. »Schon zurück?«
»Eine Fahrkarte nach Wien, einfach«, erwiderte Steiner.
»Ging ja rasch«, sagte der Schaffner.
Steiner blickte auf. »Ich kenne das«, fuhr der Schaffner fort. »Jeden Tag kommen ein paar solcher Transporte – da kennt man die Beamten bald. Es ist ein Kreuz. Sie sind in diesem Waggon herausgefahren, das wissen Sie wohl nicht mehr?«
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.«
Der Schaffner lachte. »Sie werden es schon wissen. Stellen Sie sich hinten auf die Plattform. Wenn ein Kontrolleur kommt, springen Sie ab. Wahrscheinlich kommt keiner um diese Zeit. Sie sparen so die Fahrkarte.«
»Schön.«
Steiner stand auf und ging nach hinten. Er spürte den Wind und sah die Lichter der kleinen Weindörfer vorüberfliegen. Er atmete tief und genoß den stärksten Rausch, den es gibt: den Rausch der Freiheit. Er fühlte das Blut in seinen Adern und die warme Kraf seiner Muskeln. Er lebte. Er war nicht gefangen; er lebte, er war entkommen.
»Nimm eine
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