Liebe deinen nächsten
lange. Aber zwei Monate sind endlos. Doch das hat immerhin einen Vorteil: sie werden kürzer, je länger es dauert.«
»Glauben Sie, daß es lange dauert?« fragte das Mädchen.
»Ich weiß es nicht. Darüber denke ich nicht mehr nach.«
»Ich immer.«
»Das tat ich auch, als ich zwei Monate draußen war.«
Das Mädchen schwieg. Es hielt den Kopf nachdenklich gesenkt und rauchte langsam, in tiefen Zügen. Kern betrachtete das starke, etwas gewellte schwarze Haar, von dem das Gesicht umrahmt war. Er hätte gern etwas Besonderes, Geistvolles gesagt, aber ihm fiel nichts ein. Er versuchte sich zu erinnern, wie die weltmännischen Helden mancher Bücher, die er gelesen hatte, in einer ähnlichen Situation gehandelt hätten – doch sein Gedächtnis war wie ausgetrocknet, und die Helden waren auch wohl nie in einem Emigrantenhotel in Prag gewesen.
»Ist es nicht zu dunkel zum Lesen?« fragte er schließlich.
Das Mädchen fuhr zusammen, als wären seine Gedanken woanders gewesen. Dann klappte es das Buch, das vor ihm lag, zu. »Nein. Ich will auch nicht mehr lesen. Es ist zwecklos.«
»Es lenkt einen manchmal ab«, sagte Kern. »Wenn ich irgendwo einen Kriminalroman finde, lese ich ihn in einem Zuge durch.«
Das Mädchen lächelte müde. »Dies ist kein Kriminalroman. Es ist ein Lehrbuch der anorganischen Chemie.«
»Ach so! Sie waren an der Universität?«
»Ja. In Würzburg.«
»Ich war in Leipzig. Ich hatte anfangs auch meine Lehrbücher bei mir. Ich wollte nichts vergessen. Später habe ich sie dann verkauf. Sie waren zu schwer zum Tragen, und ich habe mir Toilettewasser und Seife dafür gekauf, um damit zu handeln. Davon lebe ich jetzt.«
Das Mädchen sah ihn an. »Sie machen mir nicht gerade sehr viel Mut.«
»Ich wollte Sie nicht mutlos machen«, sagte Kern rasch. »Bei mir war das etwas ganz anderes. Ich hatte überhaupt keine Papiere. Sie haben doch wahrscheinlich einen Paß.«
Das Mädchen nickte. »Einen Paß habe ich. Aber er läuf in sechs Wochen ab.«
»Das macht nichts. Dann können Sie ihn sicher verlängern lassen.«
»Ich glaube nicht.«
Das Mädchen stand auf.
»Wollen Sie nicht noch eine Zigarette rauchen?« fragte Kern.
»Nein, danke. Ich rauche viel zuviel.«
»Jemand hat mir einmal gesagt, eine Zigarette im richtigen Augenblick wäre besser als alle Ideale der Welt.«
»Das stimmt.« Das Mädchen lächelte, und auf einmal erschien sie Kern sehr schön. Er hätte viel darum gegeben, weiter mit ihr zu sprechen, aber er wußte nicht, was er tun sollte, damit sie noch bliebe.
»Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann«, sagte er schnell, »ich würde es gern tun. Ich kenne das hier in Prag. Ich war schon zweimal hier. Ich heiße Ludwig Kern und wohne in dem Zimmer rechts neben Ihnen.«
Das Mädchen sah ihn mit einem raschen Blick an. Kern glaubte schon, alles verraten zu haben. Aber sie gab ihm unbefangen die Hand. Er spürte einen festen Druck. »Ich will Sie gern fragen, wenn ich etwas nicht weiß«, sagte sie. »Danke vielmals.«
Sie nahm ihre Bücher vom Tisch und ging die Treppe hinauf.
Kern blieb noch eine Weile in der Halle sitzen. Er wußte plötzlich alles, was er hätte sagen sollen.
»NOCH EINMAL, STEINER«, sagte der Falschspieler. »Weiß der Himmel, ich bin nervöser für Ihr Debüt in der Quetsche drüben, als wenn ich selbst im Jockeiklub spiele.«
Sie saßen in der Bar, und Fred machte Generalprobe mit Steiner. Er wollte ihn in einer Kneipe in der Nähe zum erstenmal gegen ein paar kleinere Falschspieler loslassen. Steiner sah darin den einzigen Weg, um vielleicht zu Geld zu kommen -von Diebstahl und schwerem Raub abgesehen.
Sie übten etwa eine halbe Stunde den Trick mit den Assen. Dann war der Taschendieb zufrieden und stand auf. Er war im Smoking. »Ich muß jetzt los. Oper. Große Premiere. Die Lehmann singt. Bei wirklich großer Kunst ist immer was zu tun für uns. Macht die Leute geistesabwesend, verstehen Sie?« Er gab Steiner die Hand. »Übrigens – da fällt mir noch ein – wieviel Geld haben Sie?«
»Zweiunddreißig Schilling.«
»Das ist zuwenig. Die Brüder müssen größeres Geld sehen, sonst beißen sie nicht an.« Er griff in die Tasche und zog einen Hundertschillingschein heraus.
»Hier, damit zahlen Sie Ihren Kaffee; dann wird schon einer kommen. Geben Sie das Geld dem Wirt zurück für mich; er kennt mich. Und nun:
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