Liebe deinen nächsten
nun bleibt sie hier, die ganze Nacht? Eine Tote nebenan – wer kann da schlafen!«
»Dann bleiben Sie wach, Großmutter«, entgegnete Marill.
»Ich bin keine Großmutter«, fauchte die Frau.
»Das merkt man.«
Die Frau warf ihm einen bösen Blick zu. »Und wer macht das Zimmer sauber? Der Geruch geht ja nie heraus. Man hätte ja auch Nummer zehn drüben dafür nehmen können!«
»Sehen Sie«, sagte Marill zu Ruth, »die Frau hier ist tot. Und ihr Kind hätte sie gebraucht und ihr Mann vielleicht auch. Aber dieses unfruchtbare Plättbrett da draußen lebt. Wird wahrscheinlich steinalt zum Ärger der Mitmenschen. Das ist eines der Rätsel, hinter die man nie kommt.«
»Das Böse ist härter, es hält mehr aus«, erwiderte Ruth finster.
Marill sah sie an. »Woher wissen Sie das denn schon?«
»Das ist heute leicht zu lernen.«
Marill erwiderte nichts. Er blickte sie nur an. Die beiden Ärzte kamen. »Das Kind ist bei der Wirtin«, sagte der mit der Glatze. »Es wird abgeholt werden. Ich telefoniere gleich deswegen. Auch wegen der Frau. Kannten Sie sie näher?«
Marill schüttelte den Kopf. »Sie ist vor ein paar Tagen gekommen. Ich habe nur einmal mit ihr gesprochen.«
»Vielleicht hat sie Papiere. Die kann man dann mitgeben.«
»Ich werde nachsehen.«
Die Ärzte gingen. Marill suchte den Koffer der Toten durch. Er enthielt nur Kindersachen, ein blaues Kleid, etwas Wäsche und eine bunte Kinderklapper. Er packte die Sachen wieder ein. »Sonderbar, wie das alles plötzlich auch tot ist.«
In der Handtasche fand er einen Paß und einen Meldeschein der Polizei Frankfurt an der Oder. Er hielt sie ans Licht. »Katharina Hirschfeld, geborene Brinkmann, aus Münster, geboren am siebzehnten März neunzehnhunderteins.«
Er stand auf und sah die Tote an – die blonden Haare und das schmale, harte westfälische Gesicht. »Katharina Brinkmann, verheiratete Hirschfeld.«
Er blickte wieder in den Paß. »Noch drei Jahre gültig«, murmelte er. »Drei Jahre für einen anderen. Der Meldeschein genügt auch für ein Grab.«
Er steckte die Papiere ein. »Ich werde das erledigen«, sagte er zu Kern. »Und eine Kerze besorgen. Ich weiß nicht … man sollte ein bißchen bei ihr bleiben. Nützt zwar nichts, aber merkwürdig … ich habe so das Gefühl, man sollte ein bißchen bei ihr bleiben.«
»Ich bleibe hier«, erwiderte Ruth.
»Ich auch«, sagte Kern.
»Gut. Ich komme dann später und löse Sie ab.«
DER MOND WURDE heller. Die Nacht stieg empor und war weit und dunkelblau. Sie hauchte in das Zimmer hinein mit dem Geruch von Erde und Blüten.
Kern stand mit Ruth am Fenster. Es war ihm, als wäre er weit fort gewesen und zurückgekommen. Dunkel in ihm war noch das Entsetzen über die Schreie der Gebärenden und ihren zuckenden, blutenden Körper. Er hörte den leisen Atem des Mädchens neben sich und sah ihren sanfen, jungen Mund. Er wußte plötzlich, daß auch sie dazu gehörte, zu diesem finsteren Geheimnis, das die Liebe mit einem Ring von Grauen umschloß, er ahnte, daß auch die Nacht dazugehört und die Blüten und dieser schwere Geruch nach Erde und der süße Geigenton über den Dächern, er wußte, daß, wenn er sich umwandte, im flatternden Licht der Kerze die fahle Maske des Todes ihn anstarren würde, und um so stärker fühlte er die Wärme unter seiner Haut, die ihn frösteln machte und ihn nach Wärme suchen ließ, nur nach Wärme und nach nichts als Wärme …
Eine fremde Hand nahm seine Hand und legte sie um die glatten, jungen Schultern neben ihm.
Marill saß auf der Zementterrasse des Hotels und fächelte
sich mit einer Zeitung. Er hatte einige Bücher vor sich.
»Kommen Sie her, Kern!« rief er. »Der Abend naht. Da sucht das Tier die Einsamkeit und der Mensch die Gesellschaf. Was macht die Aufenthaltserlaubnis?«
»Noch eine Woche.« Kern setzte sich zu ihm.
»Eine Woche im Gefängnis ist lang. In der Freizeit kurz.« Marill schlug auf die Bücher vor ihm. »Die Emigration bildet! Auf meine alten Tage lerne ich noch Französisch und Englisch.«
»Ich kann das Wort Emigrant manchmal nicht mehr hören«, sagte Kern verdrießlich.
Marill lachte. »Unsinn! Sie sind in der besten Gesellschaf. Dante war ein Emigrant. Schiller mußte ausreißen. Heine. Victor Hugo. Das sind nur ein paar. Sehen Sie da oben den blassen Bruder Mond – ein Emigrant der Erde. Und Mutter Erde
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