Liebe deinen nächsten
mehr?«
»Ich weiß nicht. Es klingt vorsichtiger.«
»Ja«, erwiderte sie, plötzlich traurig, »vorsichtiger, das ist es.«
»Sei doch nicht traurig«, sagte Kern. »Vorhin warst du noch so froh!«
Sie blickte hilflos zu ihm auf. »Hör nicht auf mich«, murmelte sie. »Manchmal bin ich ganz durcheinander. Vielleicht ist es der Wein. Denk, es wäre der Wein. Komm, wir haben noch ein paar Minuten Zeit.«
Sie setzten sich auf eine Bank in den Anlagen. Kern legte den Arm um ihre Schultern. »Sei doch froh, Ruth. Das andere nützt ja nichts. Das klingt dumm, aber für uns ist es nicht dumm. Wir haben unser bißchen Fröhlichkeit bitter nötig. Gerade wir.«
Sie starrte vor sich hin. »Ich möchte ja froh sein, Ludwig. Aber ich bin so schwer. Ich möchte so gern leicht sein. Ich möchte alles gut machen. Aber es ist immer ungeschickt und schwer.« Sie stieß die Worte zornig hervor, und Kern sah plötzlich, daß ihr Gesicht überströmt war von Tränen. Sie weinte ohne Laut, zornig und hilflos. »Ich weiß nicht, weshalb ich weine«, sagte sie, »ich habe doch gerade jetzt so wenig Grund. Aber vielleicht weine ich deshalb. Sieh nicht hin … sieh mich nicht an …«
»Doch«, erwiderte Kern. – Sie beugte ihr Gesicht vor und legte ihm ihre Hände auf die Schulter. Er zog sie an sich, und sie küßte ihn – blind, mit geschlossenen Augen und hartem, geschlossenem Mund, wild und zornig, als stieße sie ihn weg.
»Ach …« Sie wurde ruhiger. »Was weißt du …« Ihr Kopf fiel an seine Schulter, ihre Augen blieben geschlossen, »was weißt du …« Ihr Mund öffnete sich, und ihre Lippen wurden weich wie eine Frucht.
SIE GINGEN WEITER. Am Bahnhof verschwand Kern und kaufe einen Strauß Rosen. Er segnete dabei den Mann mit dem Monokel und den Wirt des »Schwarzen Ferkels«.
Ruth war völlig verwirrt, als er mit den Blumen ankam. Sie errötete, und aller Kummer wich aus ihrem Gesicht. »Blumen«, sagte sie, »Rosen! Ich reise ab wie ein Filmstar.«
»Du reist ab wie die Frau eines äußerst erfolgreichen Geschäfsmannes«, erklärte Kern stolz.
»Geschäfsleute schenken keine Blumen, Ludwig.«
»Doch, die jüngste Generation tut es wieder.«
Er legte ihren Koffer und das Kuchenpaket in das Gepäcknetz. Sie stieg mit ihm aus. Auf dem Bahnhof nahm sie seinen Kopf in die Hände und sah ihn ernst an. »Es war gut, daß du da warst.« Sie küßte ihn. »Und nun geh. Geh fort, während ich einsteige. Ich will jetzt nicht wieder weinen. Sonst glaubst du, ich könnte gar nichts anderes. Geh …«
Er blieb stehen. »Ich fürchte mich nicht vor einem Abschied«, sagte er. »Ich habe schon viele mitgemacht. Dies ist kein Abschied.«
Der Zug fuhr an. Ruth winkte. Kern blieb stehen, bis der Zug nicht mehr zu sehen war. Dann ging er zurück. Er hatte das Gefühl, die ganze Stadt wäre ausgestorben.
Vor dem Eingang des Hotels traf er Rabe. »Guten Abend«, sagte er, zog die Zigarettenschachtel heraus und hielt sie ihm hin. Rabe fuhr zurück und hob den Arm, als wollte er sich vor einem Schlage schützen. Kern blickte ihn erstaunt an. »Verzeihen Sie«, sagte Rabe sehr verlegen. »Das ist noch so eine … eine unwillkürliche Bewegung …«
Er nahm eine Zigarette.
STEINER WAR SEIT vierzehn Tagen Kellner in der Gastwirtschaf »Zum Grünen Baum«. Es war spät nachts. Der Wirt schlief seit zwei Stunden, und nur noch ein paar Gäste saßen herum.
Steiner ließ die Läden herunter. »Feierabend!« sagte er.
»Trinken wir noch einen, Johann«, erwiderte einer der Gäste, ein Tischlermeister mit einem Gesicht wie eine Gurke.
»Gut«, erwiderte Steiner. »Mikolasch?«
»Nein, keinen Ungarischen mehr. Fangen wir jetzt mit einem guten Zwetschgenwasser an.«
Steiner brachte die Flasche und die Gläser. »Trink einen mit«, sagte der Tischlermeister.
»Heute nicht. Entweder nichts mehr, oder ich müßte mich besaufen.«
»Dann besauf dich.« Der Tischlermeister rieb seine Gurke. »Ich besaufe mich auch! Stell dir vor: Die dritte Tochter! Kommt da heute morgen die Hebamme heraus und sagt: Gratuliere, Herr Blau, die dritte gesunde Tochter !‹ Und ich hab’ mir gedacht, diesmal wird’s bestimmt ein Bub! Drei Mädchen und kein Stammhalter! Ist das nicht zum Wahnsinnigwerden? Ist das nicht zum Wahnsinnigwerden, Johann? Du bist doch ein Mensch, du mußt das doch verstehen!«
»Na und wie«, sagte Steiner. »Nehmen wir
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