Liebe deinen nächsten
Die andern um drei Uhr nachmittags. Solange haben wir Zeit.«
»Herr des Himmels«, sagte Kern. »So lange haben wir diese ganze Wohnung für uns?«
»Ja.«
»Und wir können darin leben, als wenn sie uns gehörte, mit diesem Salon und Schlafzimmern und einem eigenen Eßzimmer und einem blütenweißen Tischtuch und Porzellan und womög lich silbernen Gabeln und Messern und Extramessern für Äpfel und Kaffee aus kleinen Mokkatassen und einem Radio.«
»Mit allem! Und ich werde kochen und braten und ein Abendkleid von Sylvia Neumann für dich anziehen!«
»Und ich den Smoking des Herrn Neumann heute abend! Und wenn er noch so groß ist! Ich habe aus der ›Eleganten Welt‹ im Gefängnis gelernt, wie man sich zu kleiden hat!«
»Er wird dir sogar passen!«
»Großartig! Das müssen wir feiern!« Kern sprang begeistert auf.
»Dann kann ich ja auch ein heißes Bad mit viel Seife haben, was? Das habe ich lange entbehrt. Im Gefängnis gab’s nur so eine Art Lysolschauer.«
»Natürlich! Ein heißes Bad mit dem weltbekannten Kern-FarrParfüm drin sogar!«
»Das habe ich gerade ausverkauf.«
»Aber ich habe noch eine Flasche! Die, die du mir im Kino in Prag geschenkt hast. An unserem ersten Abend. Ich habe sie aufewahrt.«
»Das ist der Gipfel!« sagte Kern. »Gesegnetes Zürich! Du überwältigst mich, Ruth! Es fängt gut mit uns an!«
Kern belagerte in Luzern zwei Tage lang die Villa des
Kommerzienrates Arnold Oppenheim. Das weiße
Haus lag wie eine Burg auf einer Anhöhe über dem Vierwaldstätter See. In den Adressen, die der Professional Binder Kern geschenkt hatte, stand als Anmerkung hinter Oppenheim: Deutscher, Jude. Gibt, aber nur auf Druck. National. Nicht von Zionismus reden.
Am dritten Tage wurde Kern vorgelassen. Oppenheim empfing ihn in einem großen Garten, der voll war von Astern, Sonnenblumen und Chrysanthemen. Er war ein gutgelaunter, kräfiger Mann mit dicken kurzen Fingern und einem kleinen, dichten Schnurrbart. »Kommen Sie jetzt aus Deutschland?« fragte er.
»Nein. Ich bin schon über zwei Jahre fort.«
»Und woher sind Sie?«
»Aus Dresden.«
»Ach, Dresden!« Oppenheim strich sich über den glänzenden, kahlen Schädel und seufzte schwärmerisch. »Dresden ist eine herrliche Stadt! Ein Juwel! Diese Brühlsche Terrasse! Etwas Einzigartiges, wie?«
»Ja«, sagte Kern. Ihm war heiß, und er hätte gern ein Glas von dem Traubensaf gehabt, der vor Oppenheim auf dem Steintisch stand. Aber Oppenheim kam nicht auf den Gedanken, ihm eins anzubieten. Versonnen schaute er in die klare Luf. »Und der Zwinger – das Schloß – die Galerien – das kennen Sie natürlich alles genau, wie?«
»Nicht so genau. Mehr von außen.«
»Aber, lieber junger Freund!« Oppenheim sah ihn vorwurfsvoll an. »So etwas nicht zu kennen! Edelstes deutsches Barock! Haben Sie nie etwas von Daniel Pöppelmann gehört?«
»Doch, selbstverständlich!« Kern hatte keine Ahnung von dem Baumeister des Barocks, aber er wollte Oppenheim gefällig sein.
»Na, sehen Sie!« Oppenheim lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ja, unser Deutschland! Das macht uns keiner nach, wie?«
»Sicher nicht. Das ist auch ganz gut.«
»Gut? Wieso? Wie meinen Sie das?«
»Ganz einfach. Es ist gut für die Juden. Wir wären sonst verloren.«
»Ach so! Sie meinen das politisch! Na, hören Sie… verloren … verloren, was sind das für große Worte! Glauben Sie mir, es wird heute auch sehr viel übertrieben. Ich weiß es aus bester Quelle: So schlimm ist es gar nicht.«
»So?«
»Bestimmt!« Oppenheim beugte sich vor und dämpfe vertraulich seine Stimme. »Unter uns gesagt, die Juden haben selbst viel Schuld an dem, was heute passiert. Eine Menge Schuld haben sie, das sage ich Ihnen, und ich weiß, was ich sage. Es war vieles nicht notwendig, was sie gemacht haben, und ich verstehe was davon!«
Wieviel mag er mir geben, dachte Kern. Ob es ausreichen wird, daß wir bis Bern kommen?
»Nehmen Sie zum Beispiel die Sache mit den Ostjuden, den galizischen und polnischen Einwanderern«, erklärte Oppenheim und nahm einen Schluck Traubensaf. »Mußten die alle hineingelassen werden? Was haben diese Leute wirklich in Deutschland zu suchen? Ich bin genauso dagegen wie die Regierung. Juden sind Juden, heißt es da immer – aber was besteht schon für eine Gemeinschaf zwischen so einem schmutzigen
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