Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe deinen nächsten

Liebe deinen nächsten

Titel: Liebe deinen nächsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
tatsächlich hellzusehen!«
      Goldbach blickte ihn an wie ein sterbender Schäferhund.
      »Es ist doch so einfach«, fuhr Steiner fort. »Die Anzahl Ihrer Schritte bis zur ersten Zeltstange bedeutet, die wievielte Stuhlreihe es ist. Rechtes Auge geschlossen bedeutet Dame – linkes Herr. Anzahl der Finger, unauffällig gezeigt, der wievielte von links. Vorgesetzter rechter Fuß: am Oberkörper versteckt – lin ker: Unterkörper. Je weiter vorgesetzt, desto höher oder tiefer. – Wir haben das System schon Ihretwegen geändert, weil Sie so zappelig sind.«
      Der Anwalt fingerte nervös an seinem Kragen herum. »Herr Stemer«, sagte er dann schuldbewußt, »ich habe es auswendig gelernt, probe es jeden Tag … weiß der Himmel, es ist wie verhext …«
      »Aber Goldbach!« sagte Steiner geduldig. »In Ihrer Praxis mußten Sie doch viel mehr im Kopf behalten.«
      Goldbach rang die Hände. »Ich kann das Bürgerliche Gesetzbuch auswendig, ich kenne Hunderte von Zusätzen, Entscheidungen, glauben Sie mir, Herr Steiner, ich war mit meinem Gedächtnis der Schrecken der Richter … aber dieses hier ist wie verhext …«
      Steiner schüttelte den Kopf. »Ein Kind kann das doch behalten. Acht verschiedene Zeichen, nicht mehr! Und dann noch vier für seltene Fälle.«
      »Ich kenne sie ja! Mein Gott, ich übe sie ja täglich. Es ist nur die Aufregung …«
      Goldbach saß klein und geduckt auf seiner Kiste und sah ratlos vor sich hin.
      Steiner lachte.
      »Aber Sie waren doch im Gerichtssaal nie aufgeregt! Sie haben doch große Prozesse durchgeführt, bei denen Sie eine schwierige Materie vollkommen und kaltblütig beherrschen mußten!«
      »Jaja, das war leicht. Aber hier! Bevor es anfängt, weiß ich jede Einzelheit genau – doch sowie ich in die Bude trete, verwechsle ich alles in meiner Aufregung …«
      »Weshalb, um Himmels willen, sind Sie denn so aufgeregt?«
      Goldbach schwieg eine Weile. »Ich weiß es nicht«, sagte er dann leise. »Da kommt wohl vieles zusammen.«
      Er erhob sich. »Wollen Sie es morgen noch einmal mit mir probieren, Herr Steiner?«
      »Natürlich. Aber morgen muß es klappen. Sonst kommt uns Potzloch auf den Kopf!«
      Goldbach fischte in der Tasche seines Jacketts umher und holte eine in Seidenpapier gewickelte Krawatte hervor. Er hielt sie Steiner hin. »Ich habe Ihnen hier eine Kleinigkeit mitgebracht. Sie haben so viel Mühe mit mir …«
      Steiner wehrte ab. »Ausgeschlossen! Das gibt’s bei uns nicht …«
      »Sie kostet mich nichts.«
      Steiner klopfe Goldbach auf die Schulter. »Bestechungsversuch durch einen Juristen. Was bringt das mehr an Strafe in einem Prozeß?«
      Goldbach lächelte schwach. »Das müssen Sie den Staatsanwalt fragen. Einen guten Rechtsanwalt fragt man nur: Was bringt es weniger. Das Strafmaß ist übrigens gleich; nur mildernde Umstände sind ausgeschlossen. Der letzte größere Fall dieser Art war die Affäre Hauer und Konsorten.«
      Er belebte sich etwas. »Die Verteidigung damals hatte Freygang. Ein geschickter Mann mit etwas zuviel Freude an Paradoxen. Ein Paradox als Detail ist unschätzbar, weil es verblüf; nicht aber als Grundlage der Verteidigung. Daran scheiterte Freygang. Er wollte für einen Landgerichtsrat auf mildernde Umstände plädieren wegen …«, er lachte angeregt, »Unkenntnis der Gesetze.«
      »Guter Einfall«, sagte Steiner.
      »Für einen Witz – nicht für einen Prozeß.«
      Goldbach stand da, den Kopf etwas schräggelegt, das Auge plötzlich scharf, die Lider eingekniffen – er war auf einmal nicht mehr der armselige Emigrant und Krawattenhändler, er war

    wieder Dr. Goldbach II vom Kammergericht, der gefürchtete Tiger im Dschungel der Paragraphen.

    SCHNELL, GERADE, AUFGERICHTET, wie lange nicht, ging er die Hauptallee des Praters hinunter. Er sah nichts von der Schwermut der klaren Herbsmacht – er stand wieder im überfüllten Gerichtssaal, seine Notizen vor sich, er war an der Stelle des Rechtsanwalts Freygang, er sah, wie der Staatsanwalt, der seine Anklagerede beendet hatte, sich setzte, er schob seinen Talar zurecht, er stützte die Knöchel der Hände leicht auf, wiegte sich ein wenig wie ein Fechter und begann mit metallener Stimme: »Hoher Gerichtshof – der Angeklagte Hauer …»
      Satz folgte auf Satz, kurz und scharf, unanfechtbar in seiner Logik. Er nahm die Motive des Staatsanwaltes auf, eines nach dem andern, er schien der Beweisführung zu

Weitere Kostenlose Bücher