Liebe im Gepäck (German Edition)
auch den Wiener Stephansdom oder das Brandenburger Tor in Ruhe besichtigen können, mit Hunderten von Jugendlichen, die ihn kreischend umringten? Und auch wenn ihm zehn Bodyguards die schreienden Teenie-Fans vom Leib hielten, so war doch dabei kein wirklicher Kulturgenuss zu verspüren. Doch hier war er allein, hier war er unbekannt, hier saß er auf der Rückbank eines weißen Kleinbusses und beobachtetemit stiller Muße die Landschaft, die an ihm vorbeizog. Langsam kehrte Ruhe in ihm ein.
»Sagen Sie einmal, Herr Rechtsanwalt, waren Sie nicht doch schon einmal in China?« Lukas Bares schreckte ihn aus den Gedanken. Er hatte sich zu ihm umgedreht und, lässig den Ellbogen auf die Lehne stützend, betrachtete er eindringlich Harrys Gesicht: »Sie kommen mir so bekannt vor.«
Harry schüttelte den Kopf und beeilte sich, seine nachdenkliche Miene aufzuhellen. Das fehlte ihm noch, dass dieser Lackaffe ihn erkannte.
Auch Franziska wandte sich jetzt lachend zu ihm um: »Das ist witzig, dass du das sagst, Luke! Ich hab auch gedacht, ich kenne Herrn Gerstenberg schon von irgendwoher, als ich ihn gestern das erste Mal sah.«
Lukas war sichtlich erstaunt: »Ihr habt euch gestern zum ersten Mal gesehen?« Sein Tonfall klang leicht misstrauisch: »Dafür steht ihr aber auf gutem Fuß, wenn ich das so sagen darf.«
»Sie dürfen gar nichts sagen«, erwiderte Harry patzig.
Lukas bedachte ihn mit einem Blick, mit dem man einen Vierzehnjährigen bedenken würde, über dessen freche Bemerkung man besser hinwegsah. Er drehte sich wieder nach vorne und wandte sich Franzi zu: »Was glaubst du, wie lang die Mauer ist?«
»Sechstausend Kilometer«, bemerkte Harry von hinten. Wozu hatte er den Reiseführer gelesen? »Sie ist durchschnittlich acht Meter hoch und fünf bis sechs Meter breit.«
Franziska drehte sich ihm zu, und ihr Blick war voller Bewunderung. »Mat, du überrascht mich. Woher weißt du das alles?«
Harry zuckte grinsend mit den Schultern und schwieg. Es wäre doch gelacht, wenn es ihm nicht gelänge, Franziskas Interesse von Lukas Bares wegzulenken und wieder auf ihn zu ziehen.
»Gut auswendig gelernt, Herr Musterschüler.« Lukas war weit weniger beeindruckt. »Und sogar richtig. Die Mauer wurde zum Schutz gegen die Reitervölker aus dem Norden errichtet. Natürlich ist sie in der Zwischenzeit an vielen Stellen verfallen oder überwachsen. In Mutianyu hat man ein Teilstück mit zweiundzwanzig Wachtürmen restauriert.«
Du bist der Wachturm meiner Seele.
Du bist die Stelle, an der Licht
durch meine Mauer dringt.
Du bist der Regen in der Dürre,
ein Lichtstrahl nur im dunklen Raum.
Für dich zählen keine Schwüre,
für dich zählt Wirklichkeit,
nicht Traum.
Harry schnappte sich sein Notizbuch aus dem Rucksack und versank in einem neuen Text.
IX
Als sie Mutianyu erreichten, erwartete sie die nächste Überraschung:
»Das ist ja ein Sessellift!« Franziska konnte ihren Augen nicht trauen. Vor ihnen ragte die Mauer imposant und mächtig in den strahlend blauen Sommerhimmel. Und ein Sessellift, wie er bei uns wohl in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts modern gewesen sein mochte, führte die Touristen zur Mauer hinauf.
Sie fühlte sich mit einem Mal so jung, so unbeschwert! Aber war das verwunderlich? Es war ein wunderschöner Sommertag, sie war in einem fremden, exotischen Land. In Gesellschaft von zwei gut aussehenden Männern. Dass Mat sich seltsam verhielt, störte sie nicht im Geringsten. Im Gegenteil: War es nicht amüsant? Er war sichtlich eifersüchtig auf Luke! Nicht, dass er dazu auch nur das geringste Recht gehabt hätte. Und nicht, dass er dazu auch nur den geringsten Grund gehabt hätte. Nicht einmal Bertrand könnte einen Grund zur Eifersucht finden, wäre er hier. Lukas Bares war ihre Jugendliebe. Sie kannte ihn, seitdem sie elf Jahre alt war und mit Pferdeschwanz und kurzen Röcken die erste Klasse des Gymnasiums besuchte. Was war sie verliebt in ihn gewesen! Als sie fünfzehn waren, tauschten sie die ersten Küsse, zuerst heimlich hinter einem Fliederbusch im Park. Später dann ganz offen auf demSchulhof. Sollten doch alle sehen, wie glücklich sie miteinander waren. Und neidisch werden auf die große Liebe, die sie verband. Und die ewig, ewig, ewig halten würde. Franziska musste über diese Erinnerung lachen. Dieses »ewig« hatte genau zwei Jahre gedauert. Dann hatte Lukas, kurz vor dem Abitur, auf eine andere Schule gewechselt, und bald darauf war Schluss gewesen mit
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