Liebe im Zeichen des Nordlichts
seine Schwester. Ihr Tonfall zeigte, dass sie sich bemühte zu verstehen. Fünf Uhr morgens in Irland, Mitternacht in den USA . Offenbar war es keine gute Idee gewesen, sie anzurufen. Nun saß er in T-Shirt und Boxershorts auf der Armlehne des Sofas, steckte die Zehen unter ein Kissen und flüsterte, um Addie nicht zu wecken.
»Wie schrecklich«, meinte Eileen. »Ich erinnere mich noch so gut an sie. Sie ist die Jüngere, richtig? Oh, sie war so ein niedliches kleines Ding. Nicht wie die Ältere! Die konnte einem das Leben zur Hölle machen.«
Es war ein Fehler gewesen anzurufen. Das hatte er gewusst, sobald er ihre Stimme hörte. Der Anruf hatte sie erschreckt. Nein, sie hatte noch nicht geschlafen! Noch während sie das aussprach, hörte er, dass sie versuchte, die Lüge überzeugend klingen zu lassen. Er merkte ihr die Erleichterung an, als er ihr bestätigte, dass mit ihm alles in Ordnung war. Ihr Atem wurde langsamer, und fast konnte er hören, was sie dachte. Es war die Tragödie fremder Leute, nicht ihre.
Der Fairness halber musste er einräumen, dass sie es unmöglich nachvollziehen konnte. Soweit sie informiert war, durchlebte er gerade eine Midlifecrisis; es war nur eine Ferienromanze. Ein Mädchen, das er erst seit einigen Monaten kannte und das bald vergessen sein würde. Mehr würde Addie für seine Schwestern nie sein. Und ein Gedanke huschte durch seinen Kopf. Eigentlich war es nur der Schatten eines Gedankens. Er würde nie zurückkehren können.
Er stellte sich Eileen vor, wie sie, zitternd in ihrem Nachthemd, im Flur stand und das Telefon zwischen Schulter und Ohr klemmte. Obwohl sie all ihre Kraft zusammennahm, um für ihn da zu sein, wenn er sie brauchte, sehnte sie sich bestimmt nach ihrem Bett.
»Und man kann wirklich gar nichts tun?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte Bruno. »Ich fürchte nicht.«
In der heutigen Zeit war es schwer zu glauben, dass es noch immer unheilbare Krankheiten gab.
»Was, wenn du es in den Staaten versuchst?«, hatte er Addie vorgeschlagen, nachdem sie es ihm eröffnet hatte. »Was ist mit Stammzellen?«
Aber sie hatte nur immer wieder den Kopf geschüttelt.
»Ich finde es eigentlich nicht schlimm«, sagte sie. »Ich möchte, dass du das verstehst. Es ist gut, dass ich es bin, der das passiert. Mir macht es weniger aus als anderen Leuten.«
In diesem Moment hätte Bruno alles für sie getan. Alles, worum sie ihn gebeten hätte. Er hätte es versucht. Doch die eine Sache, die sie von ihm verlangte, brachte er nicht über sich. Er konnte es nicht verstehen, er konnte es einfach nicht, es ergab für ihn keinen Sinn.
»Ich weiß, es ist sehr egoistisch von mir«, hatte sie fortgesetzt. »Für euch ist es viel schlimmer als für mich, das ist mir klar.«
Sie sprach mit ruhiger, fester Stimme.
»Weißt du«, meinte sie, »ich hätte nie gedacht, dass ich so glücklich sein kann. Dass wir beide so glücklich waren, ist alles, was für mich zählt.«
Selbst jetzt hat er noch ihre Stimme im Ohr. Ihren leichten, fröhlichen Ton. Er hat erkannt, dass es ihr ernst war, aber akzeptieren konnte er es trotzdem nicht.
Er hatte den Eindruck gehabt, gerade in einer wichtigen Auseinandersetzung unterlegen zu sein. Er hatte in einer Debatte über den Sinn des Lebens Partei ergriffen und verloren, ohne wirklich zu erfassen, warum.
Seit zwei Stunden wartete er nun schon. Zehn Patienten waren gekommen und wieder gegangen. Zehnmal war die Empfangssekretärin hin und her gelaufen. Zehnmal wurden Akten abgegeben. Bruno überlegte gerade, ob er einen Ausflug zum Kaffeeautomaten riskieren konnte, als er am Empfang Radau hörte. Im nächsten Moment kam Hugh um die Ecke.
Sein Gesichtsausdruck war der eines Wahnwitzigen. Das Haar stand ihm zu Berge, und er hatte große dunkle Augenringe. Er sah aus wie das Sinnbild des verrückten Wissenschaftlers, der die ganze Nacht in seinem Labor verbracht hat. Bei Brunos Anblick blieb er mitten auf dem Flur stehen. Seine Miene war verdattert, als versuche er, sich zu erinnern, woher er ihn kannte.
Bruno erhob sich und ging ihm entgegen. Kurz standen sie einander gegenüber wie Rivalen um eine Frau.
»Er will mich nicht sprechen«, sagte Bruno. »Ich bin jetzt schon seit fast zwei Stunden hier und kriege immer nur zu hören, dass er mich nicht sprechen will.«
»Das werden wir doch mal sehen«, entgegnete Hugh und steuerte schnurstracks auf die geschlossene Tür zu. Er riss sie auf, ohne anzuklopfen, und stürmte hinein. Bruno folgte ihm
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