Liebe im Zeichen des Nordlichts
Sie empfand es auf eine abstoßende Weise als anzüglich und erdig.
Addie stand auf und ging zur Tür. Im Spiegel der Schranktür konnte sie einen Blick auf sich erhaschen. Das Nachthemd war ein wenig unanständig, es bedeckte kaum ihren Hintern. Die Träger saßen zu locker, so dass das Oberteil tief herabhing und unter jeder Achselhöhle ein Stück gewölbte Brust freigab. Prall, das war das Wort, das ihr einfiel. Sie sah jung und prall aus. Das passte nicht. Es widersprach ihrer Situation.
Sie nahm den Morgenmantel von der Tür, wickelte sich hinein und zog trotzig den Gürtel um die Taille zusammen.
Fröhlich vor sich hin summend, machte sie sich auf den Weg in die Küche. Was sie da summte, wusste sie nicht.
Lola stand da und erwartete sie mit einem aufgeregten Schwanzwedeln. Addie tätschelte sie beiläufig. Dann richtete sie sich wieder auf und schaltete die Kaffeemaschine ein. Über Lola nachzudenken, brachte sie noch nicht über sich.
Die Tasse in der Hand, schlenderte sie durch die Wohnung und spazierte wie ein Museumsbesucher von Zimmer zu Zimmer. Sie schaute zu ihrem Schreibtisch hinüber, der an einen Süßwarenladen erinnerte. Die Gläser mit Stiften und Buntstiften, alle ordentlich aufgereiht. Die hübschen, leuchtend bunten Tintenfässchen. Auf einem Stück getupftem Aquarellpapier lag eine halbfertige Tuschezeichnung, die einen Swimmingpool darstellte.
Als Nächstes kam das Badezimmer, wo sie sich mit dem Rücken ans Waschbecken lehnte. An einem Haken neben der Wanne hing ein einsamer schwarzer Badeanzug. Der Stoff war an einigen Stellen abgewetzt, das erkannte Addie sogar aus der Entfernung. Die Rückseite des Badeanzugs war fadenscheinig, das weiße Elastikgarn schimmerte durch.
Hoffentlich hält er noch bis zum Ende durch, dachte Addie. Sie war erleichtert, dass sie nicht die Stadt nach einem neuen Badeanzug durchkämmen musste. Inzwischen wurde es immer schwieriger, einen anständigen Badeanzug zu finden. Heutzutage gab es nur noch Bikiniläden.
Sie ließ den Blick über die Kosmetika am Badewannenrand schweifen, die Kurspülungen, die Shampoos, die Glaskaraffe mit Badeschaum, und sie ertappte sich dabei, dass sie den Inhalt abmaß. Sie schätzte ab, wie lange er noch reichen würde.
Das tat sie hin und wieder im Urlaub. Dann setzte sie alles daran, auch noch den letzten Tropfen Sonnencreme aus der Tube zu quetschen, um nicht am letzten Tag eine neue kaufen zu müssen. Manchmal schnitt sie eine Tube Feuchtigkeitscreme mit der Nagelschere auf oder bohrte die Zahnbürste in die Öffnung der Zahnpastatube, um ihr noch genug Paste für ein letztes Zähneputzen abzuringen. Es war ein sehr befriedigendes Gefühl, alles restlos aufzubrauchen. Und das gestattete sie sich nun wieder.
Sie spähte in den Küchenschrank und zählte die Teebeutel. Den Kaffee, die Frühstücksflocken, die Nudeln. Sie würde sicher nicht mehr oft einkaufen müssen. Wenn sie sparsam war, musste sie vielleicht nie wieder einen Fuß in einen Supermarkt setzen.
Sie summte noch immer vor sich hin, bis ihr lächelnd klarwurde, was sie da summte, so dass sie zu singen begann.
»Well now everything dies baby that’s a fact
But maybe everything that dies someday comes back.«
Inzwischen passierte es ihr immer öfter, dass ihr spontan Bruce Springsteen in den Sinn kam. Manchmal sang sie sogar einige Zeilen laut. Sie war indoktriniert worden, daran lag es. Es war ihr ein wenig peinlich, dass es geklappt hatte, da sie es für ein Zeichen von Charakterschwäche hielt. So, als ertappe man sich dabei, dass man mit ausländischem Akzent sprach.
Sie betrachtete ihren schlichten grauen Morgenmantel. Ein weiches Wollgemisch, für das sie sich aus Gründen der Bequemlichkeit entschieden hatte. Unten ragten ihre blassen Beine heraus, die Zehennägel waren wie immer unlackiert.
Mittlerweile bereute sie das, und sie wünschte, sie hätte sich mehr Mühe mit ihrem Äußeren gegeben. Sie dachte an den Inhalt ihres Kleiderschranks, all die Cordhosen, Pullis mit V-Ausschnitt, Leggings und T-Shirts. Dann fuhr sie sich mit der Hand durchs kurze Haar und wünschte, es wäre lang genug, um es hochzustecken.
Plötzlich wurde sie von einem unbändigen Drang ergriffen. Sie wollte sich herausputzen und den ganzen Tag damit verbringen, sich für ihn herzurichten. Sie stellte sich vor, wie sie irgendwo an einem Frisiertisch saß und sorgfältig roten Lippenstift auftrug. Sie malte sich aus, wie es wohl war, sich in ein enges Kleid zu zwängen und
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