Liebe im Zeichen des Nordlichts
Kanal.
Während Addie am Ufer auf sie wartete, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass sie sich in diesem Moment absolut und völlig unpassenderweise glücklich fühlte.
»Unter aufziehenden Wolken«, sagte Obama.
Es war ein eiskalter Morgen in Washington. Die Fernsehbilder waren durch die Kälte so ausgebleicht, dass sie wie nachkolorierte Schwarzweißaufnahmen wirkten. Seine rote Krawatte, ihr senfgelber Mantel, alle nur bunte Farbkleckse auf einem sepiabraunen Hintergrund.
»Chartreuse«, stellte Addie fest. »Die Farbe ihres Mantels nennt man nicht Senfgelb, sondern Chartreuse. Glaube mir, das ist eines meiner Lieblingsthemen.«
Sie war erleichtert, schon so weit gekommen zu sein, ohne es ihm zu sagen. Es machte sie beinahe stolz, ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt zu haben. Sie hatte die Ziellinie überquert. Plötzlich erschien es ihr ganz leicht, es ihm nicht zu erzählen. So, als hätte sie taumelnd einen Marathon beendet, nur um zu bemerken, dass sie genauso gut weiterlaufen könnte.
Sie liebkoste ihr Geheimnis wie einen glatten Stein, der sicher in ihrer geschlossenen Handfläche verborgen war. Sie brauchte nur die Finger zu öffnen, um ihn preiszugeben. Eine winzige Bewegung, die ihr jedoch plötzlich unmöglich erschien.
Addie saß mit überkreuzten Beinen auf dem Sofa. Sie spürte, wie ihr Kopf auf dem Hals ruhte und wie sie Hände und Schultern hielt. Der Hund lag unter ihr auf dem Boden und blickte ruhig zu ihr auf. Bruno, neben ihr auf dem Sofa, beobachtete gebannt die Vorgänge im Fernsehen.
Sie saß da, wendete ihr Geheimnis im Kopf hin und her und konnte an nichts anderes mehr denken. Nun, da ihr selbst gesetzter Stichtag vorbei war, erschien ihr jeder Moment wie ein Verrat. Seine Begeisterung, seine Freude über den Tag, all das war ihr Geschenk, das sie ihm jede Sekunde entziehen konnte. Ein schreckliches Gefühl. Sie war wie eine Attentäterin, die darauf wartete, zuzuschlagen.
Und plötzlich wurde es unvorstellbar für sie weiterzumachen, ohne ihm reinen Wein einzuschenken.
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Kapitel 37
B runo saß auf dem Flur vor dem Sprechzimmer des Arztes.
Es war erst acht Uhr morgens, und er wartete bereits seit einer knappen Stunde. Immer wieder streckte die Sekretärin den Kopf zur Tür heraus, um ihm mitzuteilen, dass er ohne einen Termin nicht empfangen werden würde. »Er wird auf gar keinen Fall mit Ihnen sprechen«, verkündete sie mit einem stählernen Unterton. »Wie oft soll ich Ihnen das noch erklären? Ich fürchte, Sie verschwenden Ihre Zeit.«
Bruno war die Höflichkeit in Person. »Ich weiß Ihre Bemühungen zu schätzen, Ma’am«, entgegnete er immer wieder, »aber ich glaube, ich warte trotzdem lieber auf ihn.«
Immer wieder kam ein Patient heraus und schloss leise die Tür hinter sich. Einige Minuten vergingen, und der nächste erschien, um anzuklopfen. Eine dunkle, sonore Stimme rief »herein«. Die Sekretärin brachte einen neuen Aktenstapel. Ein kurzes Anklopfen, dann drehte sie am Türknauf und verschwand. Beim Eintreten bedachte sie Bruno mit einem argwöhnischen Blick.
Irgendwann muss er ja rauskommen, sagte sich Bruno. Wenn er nicht aus dem Fenster klettert, muss er die Tür benutzen.
Es war nur eine Frage der Geduld.
Für Bruno war es wie ein körperlicher Schock.
Seit seiner Kokainphase hatte er nicht mehr so empfunden. Sein Schädel pochte, und ihm war flau im Magen wie nach einer Achterbahnfahrt. Außerdem fühlte er sich gleichzeitig erschöpft und überdreht.
Er hatte kein Auge zugetan, sondern gewartet, bis Addie schlief, und sich dann wieder ins Wohnzimmer geschlichen. Dort hatte er den Laptop eingeschaltet und im Internet recherchiert. Und was er dort vorgefunden hatte, machte ihm Angst. Eine furchterregende Lektüre. Von dieser Krankheit hatte er noch nie gehört. Er hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas heutzutage überhaupt noch gab.
Da war eine Tabelle mit den Überlebenschancen. Zwanzig Prozent schafften ein Jahr. Nach drei Jahren waren es nur noch fünf Prozent. Durchschnittliche Lebenserwartung nach der Diagnose: drei bis sechs Monate. Bruno war klar, dass Addie das auch schon durchgearbeitet hatte. Er war absolut sicher, dass sie derselben Spur gefolgt war. Er sah ihre Fußstapfen vor sich im Schnee.
Nahezu symptomfrei, hieß es auf allen Webseiten. Berüchtigt dafür, dass es schwer zu diagnostizieren ist. Wenn der Befund feststeht, ist es im Allgemeinen zu spät für eine Behandlung.
»Oh, wie entsetzlich«, sagte
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