Liebe im Zeichen des Nordlichts
auszupfen, doch das ist ihr zu lästig; und außerdem ist es sinnlos, weil sie sowieso wieder nachwachsen. Den Haarwuchs in Schach zu halten ist eine Ganztagsbeschäftigung. Dass ihr Körper so sehr darauf versessen ist, neues Gestrüpp hervorzubringen, obwohl sie schon längst nicht mehr die Kraft hat, sich dagegen anzustemmen, macht sie traurig.
Addie erinnert sich an eine französische Austauschschülerin, die vor vielen Jahren einmal Della besucht hat. Da Della nichts mit ihr zu tun haben wollte, war Addie gezwungen gewesen, sie zu unterhalten. Das wunderschöne goldblonde Geschöpf hatte die Angewohnheit, sich, nur mit einem Spaghettiträger-Top und waffenscheinpflichtigen Shorts bekleidet, auf dem Sofa auszustrecken und mit einer Pinzette die Haare an den Beinen auszuzupfen. Stundenlang zupfte sie unermüdlich vor sich hin, und wenn sie sich endlich vom Sofa erhob, waren die Polster über und über mit feinen Härchen bedeckt.
»Das ist ekelhaft«, schimpfte Addie. »Absolut ekelhaft, was sie da macht.« Dann fing sie an, die Härchen vom Sofa zu wischen, und schlug mit der flachen Hand auf den Bezug, so dass sie hochflogen.
Della blickte von ihrem Buch auf. »Nichts Menschliches ekelt mich an«, erwiderte sie gedehnt, wobei sie Tennessee Williams falsch zitierte.
Das Mädchen hieß Sandrine, doch sie wurde nur Madame Mao genannt. Der Spitzname stammte von Hugo. Es hatte etwas damit zu tun, dass Mao verlangt hatte, in China alle Grashalme auszuzupfen.
Addie fragte sich, was wohl aus Madame Mao geworden war. Lebte sie in einer Wohnung in einer französischen Stadt, stand am Herd, kochte Kakao für ihre karamellbraunen französischen Kinder und wartete darauf, dass ihr langhaariger untreuer französischer Mann nach Hause kam? Was würde sie wohl sagen, wenn Addie sie auf jenen Sommer ansprechen würde, in dem sie auf dem Sofa herumgelegen und ihre Beine mit einer Pinzette bearbeitet hatte? Erinnerte sie sich überhaupt noch daran?
Inzwischen hätte Addie nichts mehr dagegen, ihre Tage damit zu verbringen, sich mit einer Pinzette die Beinhaare auszuzupfen. Bei genauerer Überlegung ist das sogar eine wunderbare Methode, die Zeit totzuschlagen. Nur, dass ihr leider der Antrieb dazu fehlt.
Ihr Kopf ist empfindlich, und sie weiß, dass sie zur Melancholie neigt. Deshalb hält sie sich an einen strengen Plan. Schwimmen und Spazierengehen hilft ihr. Ihr Kopf braucht körperliche Ertüchtigung, um frei zu werden. Sich mit allen Dingen, die in ihrem Kopf nach oben steigen, zu befassen kann sich zur Ganztagsbeschäftigung entwickeln. Manchmal hat sie es so satt, dass sie sich fragt, warum sie sich das antut.
»Was einen nicht umbringt, macht einen stark.« Das hat man Addie schon oft gepredigt, aber sie glaubt es nicht. Vielleicht klappt es ja bei einigen Menschen, allerdings nicht bei ihr. Jedes Ereignis in ihrem Leben hat sie weiter geschwächt, so als trete jemand ständig gegen das Gerüst, das sie aufrecht hält. Inzwischen ist sie ziemlich wackelig geworden.
Als Mensch fühlt sie sich wie ein Notverkauf nach einem Brandschaden. Sie ist der zerbeulte Überrest aller Dinge, die ihr je geschehen sind.
Und nun steuert sie geradewegs auf die nächste Abreibung zu.
Beschwingten Schrittes kehrte Bruno in die Pension zurück. Zum ersten Mal seit Wochen war er hellwach.
Plötzlich brauste das Blut durch seine Adern, und er fühlte sich geschmeidig und kräftig. So, als sei er gerade aus einem Alptraum erwacht und die Welt wäre wieder in Ordnung.
Neunundvierzig, sagte er sich. Neunundvierzig! Am liebsten hätte er in die Luft geboxt. Und wie immer, wenn er in dieser Stimmung war und sich selbst mochte, ging ihm Bruce Springsteen im Kopf herum.
… it ain’t no sin, to be glad you’re alive.
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Kapitel 9
O h, so ein Leben möchte ich auch führen«, meinte Della. »Die Freiheit zu haben, mit einem wildfremden Mann in die Kiste zu steigen!«
»Er ist kein wildfremder Mann, Dell, das ist ja das Problem. Er ist unser Cousin.«
»Ich dachte, es ist verboten, mit dem eigenen Cousin zu schlafen. Braucht man da nicht eine Sondererlaubnis vom Papst oder so?«
»Cousin zweiten Grades. Ich glaube, der Papst dürfte damit kein Problem haben.«
Della prustete.
»Ist er verheiratet? Wie viele Kinder hat er?«
»Keine, soweit ich weiß.« Addie bemerkte, wie ausweichend ihr Tonfall klang – ein erfolgloser Versuch, nicht naiv zu klingen. »Ich habe ihn nicht danach gefragt.«
Della prustete wieder
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