Liebe im Zeichen des Nordlichts
nicht mehr will, können wir jetzt einen Schlussstrich ziehen.
Als sie sich zu ihm umdrehte, stellte sie fest, dass er ihr den Rücken zukehrte und sich an die Wand schmiegte. Die harte Wintersonne, die durch das Fenster hereinfiel, beleuchtete eine breite Fläche sommersprossiger Haut; einige dunkle Haare zeichneten sich auf seinen Schultern ab. Sie schob die Hand durch die Lücke zwischen Arm und Taille und kuschelte das Gesicht an seinen Rücken. Dann schnupperte sie seinen Geruch, der ihr bereits so vertraut war.
Nur wenige Sekunden später war sie wieder eingeschlafen.
Als er ging, war es fast Mittag.
Die arme Lola musste dringend nach draußen und lief so unruhig im Kreis herum, dass Addie Schwierigkeiten hatte, sie anzuleinen. Sie bebte förmlich vor Ungeduld.
»Ja, mein Schatz, okay. Einen Moment noch.«
Da gerade Flut war, machten sie sich auf den Weg in den Park. Sobald sie das Tor hinter sich hatten, ließ sie Lola von der Leine. Sie hatte zwar ihren iPod dabei, nahm ihn aber nicht aus der Tasche. Sie wollte die Erinnerungen an die letzte Nacht Revue passieren lassen. Es war bereits wie ein Traum, und wäre der wundervolle leichte Schmerz in ihr nicht gewesen, sie hätte fast glauben können, es sei nie geschehen.
Sie spielte alles in Gedanken noch einmal ab wie einen Film.
Der verlegene Moment, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten. Keiner wagte, den ersten Schritt zu machen, voller Angst, er könnte die Signale falsch gedeutet haben.
Addie war so nervös, dass sie anfing, dummes Zeug zu reden und einfach ins Blaue hineinzuplappern.
»Hör zu«, begann sie. »Bevor wir weitergehen, muss ich dir etwas sagen.«
Es war so peinlich, dass sie jetzt noch zusammenzuckte, wenn sie daran dachte.
»Ich habe eine Ankündigung zu machen«, fuhr sie fort, atemlos vor Verlegenheit. »Ich habe mich schon eine Weile nicht mehr vor einem anderen Menschen ausgezogen. Ich bin achtunddreißig Jahre alt. Ich habe an der linken Brust eine Narbe, wo letztes Jahr ein Knoten entfernt wurde. Seit ich zwölf bin, habe ich eine Blinddarmnarbe. Ich bin nicht so schlank, wie ich es gerne wäre. Ich bin von Zellulitis übersät, und meine Schamhaare werden grau.«
Als es ihr einfiel, wäre sie am liebsten im Erdboden versunken.
Sie hatte bereits Dellas dröhnende Stimme im Ohr: WAS hast du ihm erzählt?
Der Fairness halber musste man ihm zugutehalten, dass er nicht schockiert war, wie man eigentlich hätte vermuten können. Sein Gesichtsausdruck war eher amüsiert.
Er hatte gelächelt, das wissende Lächeln, das sie immer attraktiver fand. Er hatte gelächelt und war langsam auf sie zugekommen. Und beim Gehen hatte er mit seiner dunklen, melodischen Stimme zu singen angefangen. Am meisten erstaunte sie, dass er überhaupt nicht verlegen war.
Es bereitete ihm nicht die geringsten Probleme, seine Gefühle zu zeigen.
»Show a little faith, there’s magic in the night
You ain’t no beauty, but hey you’re alright
Oh and that’s alright with me.
«
Sie hatte sich ein Lachen nicht verkneifen können. Schon lange war es niemandem mehr gelungen, sie zu überraschen.
Dreimal ging sie rund um den Park und spielte das Gespräch immer wieder in Gedanken durch. Dabei lächelte sie abwechselnd oder verzog vor Scham das Gesicht. Jemand, der sie beobachtete, hätte geglaubt, dass sie nicht ganz richtig im Kopf war.
Warum die Gesundheitswarnung?
War dieses Verhalten normal? Für eine hübsche achtunddreißigjährige Frau, die das halbe Leben noch vor sich hatte. Eine Frau mit ihren zahlreichen Fähigkeiten. Ein begabter Mensch mit einem moralischen Kompass, der so unverrückbar feststand wie die Sterne am Himmel. Warum also hielt sie es für nötig, eine Gesundheitswarnung auszusprechen, bevor sie sich einem Mann hingab? Hatte das wirklich sein müssen?
Addie fühlt sich derzeit wie beschädigte Ware, fühlt sich alt, abgenutzt und vom Leben gebeutelt. Sie fühlt sich nicht wie achtunddreißig, sondern wie fast vierzig.
Beim Blick in den Spiegel erschrickt sie inzwischen. Das bleiche Gesicht, die entsetzlich ernste Miene. Selbst wenn sie sich zum Lächeln zwingt, machen die Augen nicht mit. Die ernsten grauen Augen bohren sich immer weiter in sie hinein, als wollten sie ihr etwas mitteilen.
Sie mustert sich im Spiegel und bemerkt neue versprengte Härchen unter ihren Augenbrauen. Bei genauerer Betrachtung entdeckt sie Dutzende, die sich bis hinunter zur Lidfalte erstrecken. Eigentlich sollte sie sie
Weitere Kostenlose Bücher