Liebe im Zeichen des Nordlichts
gekommen ist.«
Nun verstand Addie gar nichts mehr. Sie hatte keine Ahnung, wovon die Rede war. Offenbar bemerkten sie ihre Verwirrung.
»Tante Mays Beerdigung. Es war allen sehr wichtig, dass dein Vater dabei war.«
Ihre Schwester nickte.
»Sie war wie eine Mutter zu ihm, die einzige Mutter, die er je gekannt hat.«
Und Addie nickte, als wisse sie, was gemeint war. Sie nickte und lächelte, während in ihrem Verstand immer mehr Fragen aufstiegen.
»Deine Mutter hat sie regelmäßig besucht. Sie war häufig hier und hat immer euch Mädchen mitgebracht. Es hat Tante May so gefreut, euch aufwachsen zu sehen.«
Kurz huscht Addie der Anflug einer Erinnerung durch den Kopf. Bonbons in einer runden Dose. Eine Spange in ihrem Haar. Der weiche, rosige Geruch von Gesichtspuder, wenn man sich vorbeugte, um sich küssen zu lassen.
»Deine Mutter war eine reizende Frau. Wir hatten sie alle sehr gern.«
Zu ihrem Entsetzen stiegen Addie die Tränen in die Augen. Es überwältigte sie, dass diese Frauen anscheinend so viel mehr über sie wussten als sie selbst. Sie erinnerte sich an gar nicht mehr und fühlte sich, als habe sie ein Zimmer betreten, in dem plötzlich Menschen hinter Sofas und Vorhängen hervorsprangen und »Überraschung!« riefen. Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen.
Offenbar spürte Bruno ihre Verlegenheit, denn er kam ihr zu Hilfe.
»Wenn ich schon einmal hier bin, würde ich gerne den Friedhof besuchen und mir das Familiengrab ansehen.«
Die beiden Schwestern überschlugen sich förmlich.
»Oh, ja«, jubelten sie, »das musst du unbedingt. Wir beschreiben dir den Weg.«
»Wenn man noch nie dort war, ist er nicht leicht zu finden. Wir schreiben es für dich auf.«
Bruno öffnete wieder das Notizbuch.
»Hoffentlich ist nicht alles voller Unkraut. Wir waren schon wochenlang nicht mehr dort.«
Darauf folgte eine endlose Wegbeschreibung. Als Addie und Bruno aufstanden, um zu gehen, dauerten die Erklärungen noch an.
»Komm uns wieder besuchen, wenn du das nächste Mal hier bist«, sagte die Ältere bei der Verabschiedung zu Bruno.
»Und es wird ein nächstes Mal geben«, fügte die andere mit Nachdruck hinzu.
Sie küssten Addie und umarmten sie. Allerdings baten sie sie nicht, ihrem Vater Grüße auszurichten. Und sie drängten sie auch nicht wiederzukommen. Das wurde ihr erst klar, als sie ins Auto stieg.
Bruno ließ den Motor an, und Addie winkte den beiden Frauen zu, die, ebenfalls winkend, am Tor standen. Sobald sie um die Ecke waren, lehnte Addie sich mit einem tiefen Aufseufzen zurück. Alles drehte sich, und ihr Verstand bemühte sich, etwas zu verstehen, was immer außerhalb ihrer Reichweite blieb.
»Schau dir diese Bäume an!«, rief er aus. »Hast du so etwas schon mal gesehen?«
Die Bäume waren so hoch und standen so dicht, dass sie ein Dach über der Straße bildeten. Es stimmte einen friedlich, darunter hindurchzufahren. Es war, als schlendere man den Mittelgang einer gewaltigen Kathedrale entlang. Es war ein Gefühl, als wache eine höhere Macht über einen.
Seit der Abfahrt hatte Addie kein Wort gesprochen. Bruno schien ihr Schweigen nicht aufgefallen zu sein.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass dieses Land so wunderschön ist«, stellte er fest und starrte fasziniert aus dem Fenster. »So ein Land! Keine Ahnung, warum, aber ich habe es mir immer karger vorgestellt.«
Addie betrachtete die geschwungenen Felder. Heiße Tränen brannten in ihren Augen.
Sie war verärgert über ihn, allerdings konnte sie nicht sicher sagen, warum. Außerdem ärgerte sie sich über sich selbst und fühlte sich so unbehaglich, dass es beinahe weh tat. Es war ein teuflisches Gebräu aus Schulmädchengefühlen, ein hartnäckiges Band aus Trotz, das sich immer fester um ihr Herz legte. Je gereizter sie wurde, desto weniger schien Bruno es wahrzunehmen und desto wütender machte es sie, wie gut ihm dieser Ausflug gefiel.
»Stell dir nur vor!«, sagte er. »Mein Vater und dein Vater sind als junge Männer auf dieser Straße gefahren und kannten die Strecke sicher sehr gut.«
Mein Gott, er klang so amerikanisch.
Er stoppte das Auto an einer Lücke in der Hecke, beugte sich über das Lenkrad und sah voller Begeisterung über die Felder zu dem reißenden Fluss hinüber, der dahinter floss.
»Wie sehr mein Vater sich gefreut hätte, heute hier dabei sein zu können«, meinte er wehmütig.
Plötzlich bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm seine Familiengeschichte nicht gönnte. Sie
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