Liebe im Zeichen des Nordlichts
außer dass sie eigentlich etwas denken sollte.
Ich werde ein Gebet sprechen, sagte sie sich. Sie kam sich zwar vor wie eine miese Betrügerin, glaubte aber, etwas tun zu müssen. Also sagte sie in Gedanken das Ave-Maria auf. Doch das Gebet war so schnell vorbei, dass sie den Verdacht hatte, sie könnte in der Mitte etwas vergessen haben. So lange hatte sie schon nicht mehr gebetet. Als Kind hatte sie es auch auf Irisch und auf Französisch gelernt.
Sainte Marie, Mère de Dieu. Priez pour nous, pauvres pécheurs.
Zu ihrem Erstaunen konnte sie sich noch daran erinnern. Addie wartete einen Moment mit feierlich gesenktem Kopf und ging dann weiter die Reihe entlang. Sie stellte fest, dass sie die anderen Grabsteine genauso interessierten wie der ihrer Familie.
Am Ende der Reihe befand sich ein kleines Kreuz aus weißem Marmor. Die eingemeißelten Buchstaben waren mit dicker schwarzer Tinte ausgefüllt.
Phelan,
stand da.
Angela. Geboren in Robinstown am 27. April 1911. Gestorben am 11. Mai 1989.
Ein gelebtes Leben.
»Das gefällt mir«, sagte Addie, und plötzlich war ihr Herz von Freude erfüllt, als sie weiterspazierte. Sie wiederholte die Worte und ließ sich die Poesie auf der Zunge zergehen.
»Ein gelebtes Leben.«
Sie fuhren weiter nach Tara. Allerdings konnte Addie Bruno nicht erklären, was daran so besonders war. Es hat irgendetwas mit den irischen Hochkönigen zu tun, meinte sie.
Sie stiegen auf den Hügel.
»Von hier aus kann man dreizehn Landkreise sehen«, las Bruno aus seinem Reiseführer vor.
»Ich kann da keinen Unterschied feststellen«, erwiderte Addie. »Mit den hängenden Gärten von Babylon ist das nicht gerade zu vergleichen.«
Auf dem Rückweg machten sie an der Bective Abbey Station, wo Addie ihm erklärte, der Orden sei verboten worden, worauf die Mönche sich versteckt hätten. Bruno erkundigte sich nach dem Jahrhundert.
»Ach, herrje«, antwortete sie. »Ich habe keine Ahnung. Ich glaube, ich habe in der Schule nicht viel von irischer Geschichte mitgekriegt.«
Er stand hinter ihr, schlang die Arme fest um sie und küsste ihr Ohr.
»Ich erinnere mich, dass wir die Ehefrauen von Heinrich dem Achten durchgenommen haben. Wir mussten ihre Namen auswendig lernen. Die spanische Inquisition und ähnliche Dinge waren auch mal dran, aber über die irische Geschichte weiß ich nicht viel.«
Sie erinnerte sich, dass es eine Schlacht von Boyne gegeben hatte, die entscheidend gewesen war. Doch als sie nun auf einem schlammigen Feld stand und das aufgewühlte Wasser des Flusses betrachtete, konnte sie beim besten Willen nicht sagen, warum.
»Dieser Fluss hat eine historische Bedeutung. Die habe ich aber vergessen.«
»Kein Problem«, erwiderte er. »Dann google ich es eben.«
Doch es war trotzdem peinlich. Bis jetzt hatte sie sich nie für einen ungebildeten Menschen gehalten.
Lola, die ihre eigene Unwissenheit nicht als Problem wahrnahm, paddelte fröhlich im historisch bedeutsamen Fluss.
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Kapitel 21
V on Anfang an war klar, dass Lola ein gutes Herz hat.
Das bemerkt man auf den ersten Blick. Daran, wie sie den Kopf hält, so schüchtern und gleichzeitig so würdevoll. Daran, wie sie einen ansieht, bescheiden und dennoch auf der Suche nach Liebe. An ihrem hoffnungsfrohen Schwanzwedeln. Dellas Kinder nennen sie den nicht bellenden Hund, weil sie das nur selten tut.
Sie ist ein Hund aus dem Tierheim, ein Hund, der viel durchgemacht hat. Sie meidet fremde Menschen und begegnet sogar anderen Tieren mit Argwohn. Wenn jemand sie streicheln will, den sie nicht kennt, duckt sie sich flach hin, spreizt die Beine, presst den Körper gegen den Boden und bewegt den Kopf, als wolle sie sich unter einer Bettdecke verkriechen. Manchmal zittert sie auch.
Addie weiß nichts über Lolas Vergangenheit. Sie ist wie ein Flüchtling hier eingetroffen und an einem Sommerabend aus dem Kofferraum der Dame vom Tierheim gesprungen. Außer einem abgewetzten roten Halsband und einer Schlafmatte hatte sie nichts bei sich.
»Sie können ihren Namen ändern, wenn Sie wollen«, sagte die Dame, »aber wahrscheinlich lassen Sie das lieber.«
Sie hat Addie gewarnt, dass Lola nachts heulen könnte, aber sie hat weder geheult noch sonst einen Mucks von sich gegeben. Natürlich hat Addie kein Auge zugetan, sondern ist ständig in die Küche geschlichen, um nachzuschauen, ob Lola schlief. Und jedes Mal, wenn sie im Nachthemd auf der Schwelle stand, blickten ihr zwei schimmernde Augen aus der Dunkelheit
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