Liebe im Zeichen des Nordlichts
verstand nun, wie viel sie ihm bedeutete. Doch für sie war es etwas anderes. Die Sache war schwierig und kompliziert, und seine Gegenwart hatte die negativen Gefühle in ihr wieder zum Leben erweckt.
Sie schloss die Augen, um die Tränen zu verbergen, die ihr die Wangen hinunterzulaufen drohten. Heiße Wuttränen und mit ihnen Widerwillen.
Sie hätte auf Hugh hören sollen. Das alles brachte niemanden weiter. Und es würde kein gutes Ende nehmen.
Bevor er gekommen war, hatte sie versucht, glücklich zu sein. Sie griff nach diesem Gedanken und versuchte, sich daran zu klammern. So, als wäre er ein Ast, der über einem reißenden Fluss hing. Doch es war zwecklos. Sie musste zugeben, dass sie sich etwas vormachte. Also gut, dann war sie eben nicht glücklich gewesen, aber dafür wenigstens in Sicherheit. Bevor er gekommen war, hatte ihr Elend ihr Geborgenheit vermittelt.
Addies Wissenslücken erschreckten Bruno. Es war schwierig, nicht darüber zu erschrecken, zum Beispiel, als er sich in aller Unschuld nach ihrer Familie erkundigte.
»Aus welchem Teil des Landes kam deine Mutter?«
Eigentlich eine ganz einfache Frage. Nur, dass Addie die Antwort nicht kannte.
Sie gingen zwischen den Grabsteinen auf dem Friedhof von Navan umher. Anscheinend waren sie die einzigen Fußgänger. Die anderen Besucher waren mit dem Auto da. Sie bogen langsam an den Toren ab, rollten die Pfade entlang und blieben am Zielort stehen. Ein oder zwei Minuten Pause, den Arm ins offene Autofenster gestützt. Genug Zeit, um eine Zigarette zu rauchen. Dann fuhren sie im Schneckentempo weiter und krochen durch die offenen Tore auf die Straße hinaus.
»Ein Drive-in-Friedhofsbesuch«, stellte Bruno fasziniert fest. Er fand, dass es etwas Mafiaartiges an sich hatte, gleichzeitig lässig und bedrohlich.
Addie führte Lola an der Leine, weil sie es ungehörig fand, sie frei zwischen den Gräbern herumlaufen zu lassen. Nun zog sie an Addies Arm und schlich dahin wie ein Schnabeltier, so dass ihre Ohren den Boden streiften.
Addie grübelte noch immer über Brunos Frage nach.
»Ich glaube, sie kam aus Wexford, wahrscheinlich irgendwo aus der Nähe von New Ross. Sie war Einzelkind und ist nach der Schule nach Dublin gezogen, um aufs College zu gehen.«
»Aber fährst du nie nach New Ross? Besuchst du nie deine Verwandten?«
»Ich glaube, da gibt es niemanden mehr zum Besuchen. Soweit ich weiß, sind alle tot. Meine Großeltern sind schon vor meiner Geburt gestorben. Außerdem glaube ich nur, dass sie aus New Ross waren. Ich bin nicht sicher. Vielleicht war es auch Enniscorthy. Jedenfalls irgendwo in Wexford.«
Sie merkte Bruno an, dass ihre Ungenauigkeit ihn verwunderte. Offenbar wusste er sie nicht einzuordnen.
»Wo haben deine Eltern sich kennengelernt?« Er schlenderte eine Reihe von Grabsteinen entlang und beugte sich vor, um die Namen zu lesen. Dabei hatte er sein Notizbuch in der Hand und studierte die Wegbeschreibung.
Inzwischen war Addie selbst schockiert.
»Weißt du was? Ich habe keine Ahnung. Nicht die geringste. Mein Dad spricht kaum über sie.«
Das erschien ihr seltsam. Aus Brunos Perspektive war es sogar ausgesprochen schräg.
»Da wären wir!«, verkündete Bruno triumphierend.
Sie standen vor einem großen, quadratischen Stück Land. Ringsherum verlief ein niedriger Eisenzaun, der an einigen Stellen eingesackt war. Der Boden war lückenhaft mit Kies bedeckt, zwischendurch lugte hie und da eine gewellte Schicht aus Plastiksäcken hervor. Der schlichte Grabstein war mit Moos und Flechten bewachsen, die Schrift schwer leserlich. In den Stein hatte man eine lange, kaum zu entziffernde Liste von Namen eingemeißelt. Boylans und noch mehr Boylans. James und John und noch ein John, das kleine Kind, das gestorben war. Der arme Wurm war erst zwei gewesen, das konnte man anhand der Daten ausrechnen. Es gab auch eine Catherine. War das vielleicht ihre Großmutter gewesen? Aber die war doch sicher neben ihrem Mann beerdigt worden. Addie wusste es nicht, sie hatte keine Antworten auf die Fragen. Inzwischen fand sie es selbst eigenartig, dass sie noch nie hier gewesen war.
Bruno schrieb etwas in sein Notizbuch. Er balancierte auf den Fußballen, das Buch ruhte auf einem hochgezogenen Knie. Sorgfältig notierte er sich alles, was auf dem Grabstein stand.
Addie verharrte am Rand des Grabes, las die Inschriften und wartete darauf, dass sich irgendein Gefühl meldete. Aber nichts geschah. Sie fühlte nichts und sie dachte nichts,
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