Liebe im Zeichen des Nordlichts
Kind. Manche Menschen genießen es eben, jemanden zu treten, der schon am Boden liegt.«
Er machte ihr Angst. Die Angelegenheit gewann völlig neue Dimensionen wie ein düsterer Schatten, der über eine Wand gleitet. Allmählich bereute sie, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.
»Was soll das heißen?«, fragte sie. Ihre Stimme zitterte.
Er antwortete genüsslich und in einem melodiösen Ton.
»Oh, soweit mir zu Ohren gekommen ist, haben sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen mich gestrickt. Eine kleine Verschwörung. Sie haben die Köpfe zusammengesteckt und sich eine Geschichte ausgedacht, um ihren Hals zu retten.«
Wie ein Boxer reckte er die Gipsverbände hoch.
»Eine sehr unschöne Sache. Und dass ich nicht vor Ort bin, um mich zu verteidigen, ist wirklich ein Pech.«
Addie starrte ihn entgeistert an. Sie versuchte, den Sinn seiner Worte zu erfassen.
»Das könnte ein ganz großes Ding werden«, sagte er. Seine Augen hinter den Brillengläsern blitzten und funkelten. »Mein letzter Kampf.«
Sobald sie wieder in ihrer Souterrainwohnung war, rief sie Della an.
»Das war nur ein Scherz«, meinte sie. »Es gibt keine guten Nachrichten. Man wirft ihm vor, Kollegen unter Druck gesetzt zu haben.«
»Was! Zusätzlich zu der Kunstfehlersache?«
»Offenbar. Laut Hugh ist es während der Untersuchung ans Licht gekommen. Sie haben jeden befragt, der an diesem Tag anwesend war. Einer der Assistenzärzte wirft Hugh vor, er hätte ihn unter Druck gesetzt. Die Schwestern bestätigen das. Hugh bezeichnet es als Verschwörung, um ihn loszuwerden.«
»Ach, du meine Güte.«
»Ich weiß, dass es lächerlich ist!«
»Moment mal. Ist es das wirklich?«
»Natürlich! Er ist zwar direkt und nimmt kein Blatt vor den Mund, aber das ist ja kein Verbrechen.«
»Addie, du kennst ihn doch. Er sagt einfach das Erste, was ihm einfällt, und er kann ziemlich gemein und gehässig werden. Das weißt du.«
»Aber er meint es nicht so. Er meint dieses Gerede nicht ernst.«
»Ob er es ernst meint oder nicht, spielt keine Rolle. Heutzutage darf man sich nicht mehr so aufführen.«
»Die Familie macht beim Schadensersatz erhöhende Umstände geltend«, sagte Addie mit einer Stimme, die eher wie ein Wimmern klang. »Die Angehörigen der Toten behaupten, er hätte ihnen Angst gemacht. Er hätte die Beherrschung verloren, und sie hätten befürchtet, er könnte gewalttätig werden.«
»Das kann ich mir gut vorstellen.« Dellas Stimme klang hart und schneidend.
»Oh, Della.« Inzwischen flüsterte Addie ins Telefon. »Du hältst Daddy doch nicht für einen Bösewicht, oder?«
Della ließ sich mit ihrer Antwort Zeit, was mehr verriet als tausend Worte.
»Er gehört eben noch zur alten Schule, Ad. Und in unseren Zeiten macht das einen Menschen zum Bösewicht. Die Leute erwarten Verständnis und Einfühlungsvermögen. Sie erwarten, dass man sich an die Regeln hält. Und darauf haben sie auch ein Recht, verdammt.«
»Ich weiß, Dell, aber er ist ein guter Arzt, du weißt, dass er ein guter Arzt ist.«
»Es reicht nicht, wenn man ein guter Arzt ist. Man muss auch ein guter Mensch sein.«
»Er ist ein guter Mensch.«
»Das wissen wir beide, Ad. Doch die anderen nicht. Und du musst zugeben, dass der äußere Eindruck eher für das Gegenteil spricht.«
Nach dem Telefonat ging Addie ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Die Stille in der Wohnung hüllte sie ein.
Das Gespräch mit Della überschlug sich wild in ihrem Kopf. Sie hatte keinen Einfluss darauf. Es versuchte, sich in ihren Gedanken neu zu ordnen. Satzfetzen aus ihrem und Dellas Mund kämpften um die Vorherrschaft.
Sie wollte sich dagegen wehren und eine Verteidigungsstrategie entwickeln. Doch der Vertrauensverlust war so gewaltig und beängstigend, dass es ihr körperliche Übelkeit verursachte.
Ihr ganzes Leben lang hatte Addie sich fest an die Überzeugung geklammert, dass Hugh ein guter Mensch war, und sich geweigert, eine Alternative in Erwägung zu ziehen. Sie hatte ihn gegen die ganze Welt verteidigt und ihn zum Zentrum ihrer Weltanschauung gemacht. Nun fühlte sie sich wie eine Närrin.
Sie legte sich ins Bett, drehte sich zur Seite und rollte sich zusammen. Es war, als kauere sie am Rande einer steilen Klippe. Wenn sie sich auch nur einen Zentimeter bewegte, würde sie in die Tiefe stürzen. Sie war starr vor Angst und wusste nicht, wie sie die Nacht überstehen sollte.
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Kapitel 22
I n seinem kleinen
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