Liebe im Zeichen des Nordlichts
Tagesablauf angewöhnt. Jeden Morgen nach dem Frühstück ging er in die Bibliothek. Er schlenderte den Kanal entlang, bog an der Mount Street Bridge rechts ab und spazierte dann am Merrion Square vorbei. In der geschäftigen Nassau Street verließ Bruno den Gehweg, um den Gruppen von Amerikanern auszuweichen, die in die Andenkenläden strömten. Dann setzte er seinen Weg die Kildare Street hinauf fort und betrat die National Library. Der Mann am Empfang kannte Bruno inzwischen, und sie hielten jedes Mal ein kleines Schwätzchen. Bruno knüpfte schnell Kontakte, das war schon immer so gewesen.
Oben im Lesesaal setzte er sich an einen leeren Tisch. Während er die Kabel seines Laptops entwirrte und seinen Arbeitsplatz einrichtete, blickte er sich um und nickte einigen Stammbesuchern zu. Es waren jeden Tag dieselben Gesichter, und langsam lernte Bruno ihre Gewohnheiten kennen. Er fragte sich, was sie wohl von Beruf waren.
Da war die Frau mit dem geraden Rücken und den dunkelroten Locken, die bis auf die Sitzfläche eines Stuhles fielen und einen schimmernden Haufen bildeten. Ein uralter Herr im Tweedanzug, der den ganzen Tag mit einem Finger seinen Laptop bearbeitete wie ein Wilder. Da war ein Jugendlicher mit Aknenarben und hellem stacheligen Haar; er saß stets vornübergebeugt am Tisch und machte sich sorgfältig Notizen in eine große Kladde. Bruno stellte interessiert fest, dass er die Seiten nicht im Längs-, sondern im Querformat beschriftete. Ein anderer Mann trug ein struppiges Kinnbärtchen und einen Nasenring und las den ganzen Tag nur. Bruno sah ihn nie etwas aufschreiben.
Diese Leute waren nun Brunos Kollegen, Mitglieder derselben schweigenden Gemeinschaft.
Bevor Bruno sich seiner Arbeit widmete, saß er einen Moment da und genoss den Geruch nach Leder und altem Holz. Er ließ den Blick über die nackten Putten schweifen, die die Gewölbedecke zierten, und betrachtete die goldenen römischen Ziffern an den Bücherregalen. Die Wände waren blassblau gestrichen, der Farbton einer vergangenen Epoche.
Er brauchte stets eine Weile, um sich an das Brummen des Generators zu gewöhnen. An das Knarzen der Stühle, das gelegentliche Husten oder Gähnen seiner Mitstreiter und das Kratzen von Bleistiftspitzen auf Papier. Die Bibliothek war ein stiller, von Blei, Holz, Leder und Papier geprägter Ort. Hier sein zu dürfen war für Bruno wie ein Wunder, und er freute sich darüber.
Er entfaltete den Familienstammbaum, breitete ihn auf dem Tisch aus und musterte die Seite.
Die Arbeit hatte etwas von Alchimie an sich und barg die Möglichkeit eines Wunders. Wenn man genügend Fakten zusammentrug, gelang es einem vielleicht, sie zum Leben zu erwecken. Dann würde plötzlich eine Geschichte aufsteigen wie eine Dampfwolke, die entsteht, wenn man in einem Labor zwei Chemikalien zusammenschüttet. Und Bruno war der Zauberer. Er war derjenige, der seine Vorfahren wieder auferstehen ließ.
Auf die Informationen über seine Urgroßmutter war er rein zufällig gestoßen. Er hatte ihren Namen auf der Geburtsurkunde seines Großvaters entdeckt und das Datum ihrer Hochzeit ermittelt. Nora Boylan hatte sie geheißen, geborene Maguire. Ihr Geburtsdatum wurde mit 1850 angegeben. Doch ganz gleich, wie sehr er sich auch abmühte, er konnte es in den Kirchenbüchern nicht finden. Es fehlte jede Spur von ihr.
»Geburtsdaten sind unzuverlässig«, teilte man ihm mit. »Frauen haben meistens gelogen, was ihr Alter anging. Wahrscheinlich hat sie bei ihrer Hochzeit zu einer kleinen Notlüge gegriffen. Wenn sie angegeben hat, dreißig zu sein, war sie sicher ein wenig älter.«
Bruno gefiel die Vorstellung, dass sie gelogen haben könnte. Schmunzelnd stellte er sich Nora vor, die vermutlich schon auf die vierzig zuging. Sie stand am Altar an der Seite ihres Zukünftigen und lauschte mit angehaltenem Atem, wie der Priester das Eheversprechen verlas. Nur noch wenige Minuten, und sie würde ihr Dasein als alte Jungfer endgültig hinter sich gelassen haben. Die kleine Notlüge war der einzige Preis, den sie dafür bezahlen musste. Sie würde sich die Mühe sparen, das in der Beichte zu erwähnen.
Anderthalb Jahrhunderte später beschloss ihr ritterlicher Urenkel, ihr Geheimnis zu wahren. Mit schwarzer Tinte trug er ordentlich ihren Namen in den Familienstammbaum ein und vermerkte darunter fein säuberlich die Daten. Geboren 1850 . Gestorben 1898 . Er zog ein Kästchen um ihren Namen und verband es mit einer doppelten Linie mit dem
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