Liebe im Zeichen des Nordlichts
von John Boylan. Aus der Verbindung waren drei Söhne hervorgegangen. James, John und Patrick. Sie war im Jahr von Patricks Geburt gestorben. Vielleicht im Kindbett. Möglicherweise war sie ja zu alt gewesen, um noch ein Baby zu bekommen.
Er betrachtete das, was er bis jetzt zustande gebracht hatte, und versuchte, sich die Leben vorzustellen, die sich hinter den Namen und Daten verbargen. Da mussten noch mehr Geschichten sein, das wusste er ganz genau.
Er hatte nur keine Ahnung, wo er suchen sollte.
»Hugh würde sterben, wenn er auch nur ahnen würde, dass du ihn in deinen Familienstammbaum eingetragen hast.«
Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie hinter ihm stand, so sehr war er in seine Arbeit versunken gewesen. Er hatte ein winziges, ovales Foto von Hugh in der Hand und klebte es ordentlich auf die Seite.
»Er würde einen Anfall kriegen, wenn er das sehen könnte!«
Bruno blickte nicht einmal auf.
»Mag sein«, erwiderte er ruhig. »Aber das ändert nichts. Er gehört hierhin, ob es ihm nun passt oder nicht.«
Mit dem Mittelfinger drückte er das Foto auf die Seite.
Inzwischen hatte er viele Namen und auch die meisten Daten beisammen. Er hatte Stunden damit verbracht, die Geburtenregister zu durchforsten, sorgfältig Generation für Generation zu sichten und Geburtsurkunden und Trauscheine aufzuspüren. Er pflückte Fakten aus der Luft wie überreife Früchte.
Von Addie hatte er sich einige Fotos geliehen, von denen er im Zeitungsladen des Dorfes Farbkopien anfertigen ließ. Diese hatte er dann zu kleinen Kameen zurechtgeschnitten, wie sie auf italienischen Grabsteinen prangten. Nun blickten ihm die Gesichter entgegen.
»Oh, ich kann mir das nicht anschauen«, sagte Addie, ging zu ihrem eigenen Schreibtisch und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Sie erschauderte theatralisch. »Ich kriege davon Gänsehaut. All die Verstorbenen.«
Brunos Miene verfinsterte sich, und er betrachtete niedergeschlagen seine Arbeit.
Der Stammbaum hatte noch Lücken, das beschäftigte ihn. Je mehr Informationen er sammelte, desto auffälliger wurden die fehlenden Teile. Er musste immer daran denken, so wie man nicht anders kann, als ein Loch im Zahn ständig mit der Zunge zu betasten.
»Ich weiß nicht, warum er mir nicht helfen will«, meinte er. »Ich suche doch nur den Namen seines Vaters und das Geburtsdatum. Das muss er doch wissen.«
»Bruno, könntest du einfach aufhören?«
Er schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Ich verstehe euch einfach nicht.«
In seiner Stimme schwang eine bis jetzt nie dagewesene Gereiztheit mit.
Addie griff nach einem dünnen Pinsel und tauchte ihn sorgfältig in ein Fass mit türkisfarbener Tusche. Mit konzentriert gesenktem Kopf ließ sie den Pinsel über das Papier gleiten.
Bruno sah sie abwartend an.
Sie spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Langsam hob sie den Kopf.
»Warum schaust du mich so an?«
Er musterte schweigend ihr Gesicht.
Sie spürte, wie sich ihr Kiefer verkrampfte.
»Würdest du aufhören, mich anzustarren, als wäre ich ein Tier in einem dämlichen Zoo?«
»Nun«, antwortete er leise. »Manchmal kommst du mir wirklich so vor, weil dich deine Herkunft so gar nicht interessiert.«
Aha, jetzt war es also so weit, die Sache war auf dem Tisch. Davor hatte sie sich die ganze Zeit gefürchtet. Sie war nicht bereit, sich zu offenbaren; eher würde sie den Kontakt zu ihm abbrechen, wenn es sein musste.
Den Pinsel hoch in die Luft erhoben, drehte sie sich mit ihrem Stuhl um. Sie war bleich vor Zorn.
»Willst du mich beleidigen?«
Dieser Vorwurf schien ihn ehrlich zu überraschen.
»Natürlich nicht!«
»Gut, dann tu mir einen Gefallen und halt dir eines vor Augen. Du bist nicht von hier und verstehst nicht, wie das ist. Du bist Tourist, Bruno. Tut mir leid, aber du bist nichts weiter als ein verdammter Tourist.«
Er hörte sehr aufmerksam zu. Diese bedächtige Art zu lauschen und einen anzusehen, wenn man schon längst zu reden aufgehört hatte, so als müsse er das Gesagte noch verarbeiten. Das war beunruhigend. Selbst nach all dieser Zeit war Addie nicht sicher. War er sehr dumm oder sehr, sehr klug.
»Ich wette, du hattest eine glückliche Kindheit«, fuhr sie fort. »Deshalb redest du so gern über die Vergangenheit. Das tun Menschen mit einer glücklichen Kindheit nämlich immer.«
Sie war machtlos gegen ihren sarkastischen Tonfall, der sie selbst erschreckte.
Bruno hielt nachdenklich inne und ließ seine Erinnerungen Revue passieren. Und er konnte es
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