Liebe in groben Zügen
kein Blick auf die Nummer, aber es war nicht Bühl, es war Renz, ob er etwas einkaufen solle. Seine Stimme klang ungewohnt, leiser als sonst, dazu der Schrecken, weil er plötzlich wieder da war, schon in der Wohnung, wieder ein Teil ihrer Dinge; sie konnte nur Ja sagen, mehr fiel ihr nicht ein, und dann machte sie weiter, ohne eine Spur Ironie. Sie setzte jetzt auf die politische Karte, Fernández, ein Durchhaltedichter, immer auf Seiten des Volkes, bis heute, nur nicht auf Seiten der Kinder oder des einen Kinds, das sein Neffe gezeugt hatte. Am späten Nachmittag sprach sie den fertigen Kommentar, ein Probelauf, ob alles passte, Bilder und Text: für einen Profisprecher, der das Ganze noch weiter abfedern würde mit einer sympathischen Stimme. Mehr konnte sie nicht tun, sie konnte nur noch ungesehen auf die Straße kommen, der sicherste Weg: die Gänge des alten Hörfunkhauses, von jungen Fernsehredakteurinnen gemieden, Gänge, in denen sie sich auch schon verirrt hatte, vor dreißig Jahren, als dort in hölzernen Studiozellen ihre ersten Radioporträts aufgezeichnet wurden, sie das alles noch selbst sprach, sekundiert von wahren Tonkünstlern, die blitzschnell ein zu starkes Atmen herausschneiden konnten, mit einer tatsächlichen Schere, um die Enden von Hand und mit Klebstoff wieder zusammenzufügen. Und sie kam ungesehen auf die Straße und auch bis zur U-Bahn.
Es war Feierabend, und sie musste stehen in der Bahn, eingeklemmt zwischen feuchten Jacken in seltsamer Stille, weil alle mit ihren Telefonen beschäftigt waren, also machte sie einfach mit und wählte Bühls Nummer. Wo bist du, fragte er als Erstes, weil der Empfang nicht gut war, und sie erzählte es, von Station zu Station, eine U-Bahn-Reportage, Adickesallee, Holzhausenstraße, Grüneburgweg, und nirgends etwas los, nicht einmal Graffiti an den Wänden – Und wo bist du? Die Bahn fuhr weiter, und er rief, er sei auch unterwegs, schon im Zug nach Verona, daher der schlechte Empfang, hörst du mich? Ich habe in dem Altenheim angerufen, aber konnte nicht mit Tulla reden, sie sei krank, hieß es, und auch zu verwirrt für einen Besuch. Aber den Leuten dort ist nicht zu trauen, also war ich bei einem Anwalt, er will die Sache prüfen, aber vor Weihnachten wird es nichts, erst im neuen Jahr, und wenn alles gutgeht, hole ich sie dort heraus. Bist du schon an der Hauptwache? Bühl klang jetzt näher, und sie sprach hinter vorgehaltener Hand, die Stirn an der Haltestange, Nein, erst am Eschenheimer Turm. Wo früher das Theater am Turm war, vor deiner Zeit. Dort habe ich meine ersten Porträts gemacht, über Fassbinder in seiner ewigen Lederjacke oder den monströsen Schauspieler Spengler, über jeden, der dort zu tun hatte, berühmt war oder auf dem Sprung zum Ruhm, bis hin zur Bedienung im Café, eine Studentin von dunkler Schönheit und dunkler Intelligenz, später wurde auch etwas aus ihr. Bist du sicher, dass es richtig ist, die alte Frau dort herauszuholen? Mehr ein Appell als eine Frage, als die Bahn unter der Hauptwache anfuhr, jetzt noch voller als vorher, um sie herum eine Luft zum Ersticken. Ja, sagte Bühl, versuchen muss ich es oder ihr anbieten. Du wirst diese Frau sehen, sie ist nicht verwirrt, nur lebendig! Ein Wort, das sie beschäftigte, als es unter den Main ging, zu ihrer Station.
Lebendig, was heißt das? Vila zwängte sich aus der Bahn und ging über die Treppen hinauf zum Schweizer Platz, der bei aller Hässlichkeit ihr Platz war, ein perverses Stückchen Heimat, rund wie das runde Herz von Lucca, nur mit Schreckensfassaden und einem Kreisverkehr, den sie mit durchgesetzt hatte, ihre einzige Bürgertat in all den Frankfurter Jahren. Lebendig? Lebendig heißt liebend, sagte Bühl nach zwei Anläufen, als sie schon über die Straße ging, auf ihren Teeladen zu. Aber Liebende sind doch verwirrt, oder was sind sie sonst? Und wenn man alt ist und nicht mehr weiß, wohin mit der Liebe, ist man noch mehr verwirrt, also Vorsicht, vielleicht beschützt dieses Heim deine Tulla auch! Ein längerer Einwand am Gemüsestand vor der Reinigung, und damit ließ sie es gut sein. Weißt du, wo ich bin? Ich biege in die Oppenheimer, rechts mit diesen Läden, die alle den gleichen Weihnachtsschmuck haben. Bist du Heiligabend wirklich im Haus? Sie ging jetzt schneller und schaute, ob Elfi oder Lutz oder gar Renz vom Einkaufen kämen, etwa aus der Weinhandlung Rösch. Ja, was sonst, sagte Bühl, als sie schon in der Schwanthaler am Unio vorbeiging, wo abends
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