Liebe in groben Zügen
Vila den Rest des Gesprächs, um mit der Enttäuschung auf dem Balkon allein zu sein – Katrin, einzige Frau auf der Welt, die ihn nur als Mensch interessierte, hätte vielleicht verstanden, was ihn mit einer kranken Artgenossin im fernen München verbindet. Aber lieber vergab sie ihre Empathie an Jeff – ein Name, der vorher noch nie gefallen war, bei keinem Skypen, also ganz neu, der Junge, und bei Jeff fiel ihm nur Jeff Bridges ein, als Lightfoot neben Clint Eastwood, nicht als fabelhafter Baker Boy, wo er schon recht kaputt aussah –, und mit dem fuhr sie also in den Schnee, obwohl sie sich aus Schnee gar nichts machte. Vila versuchte noch, etwas über Jeff herauszukriegen, ob sie diesen Wahnsinnstypen liebe, Renz konnte kaum zuhören und war froh, als die letzten Worte fielen, Pass auf dich auf und sei glücklich!, etwas, das kaum zusammenging, bestimmt nicht in seinem Leben. Und nach ihrem Appell war Vila zu ihm gekommen, nur im weißen Slip, einen Arm über den Brüsten, Jetzt sind wir allein, sagte sie, ein Weihnachten zu zweit, so wie die drei Uraltpaare, über die wir hier immer Witze machen. Aber ist das nicht wunderbar: Unsere Tochter hat sich verliebt. Oder gönnst du ihr das nicht? Eine Frage, mit der Renz ins Bett gegangen war, und dort verlor sie sich in einem bleiernen Schlaf nach dem elfstündigen Flug.
Die drei Uraltpaare hatten jedes Jahr ihre Uralttische beim Frühstück und ihre Uraltplätze am Strand, Paare ohne Kinder oder mit erwachsenen Kindern, seit Jahren über Weihnachten in dem Hotel und von Vila und Renz mit speziellen Namen versehen. Nummer eins: das Paar des Grauens, Italiener, sie spindeldürr mit Leopardenleggins und Plateauschuhen, eine Greisinnennutte, er mit geschwärzten Locken, Flickenjeans und Goldkettchen an jedem Gelenk, ein Greisenzuhälter. Dann das Norman-Rockwell-Paar, wie von dem berühmten Illustrator gemalt, zwei Alte aus Houston im ewigen Golfdress, die gern ihre Ansichten über die Verbrecher in Washington und den New Yorker Künstlersumpf loswurden. Und drittens: das Idealpaar, aus genau diesem Sumpf, beide schlank und faltig, der Mann mit Stirnband und einem Lächeln wie Ben Gazarra in The Killing of a Chinese Bookie, sie mit gewaltigem Haar, immer eine Tasche voller Bücher dabei, als hätte Susan Sontag ihre Krankheit überlebt. Und die drei saßen auch schon auf der Frühstücksterrasse, als Vila am anderen Morgen Kaffee bestellte, vor sich nur den Strand und ein glattes Meer, bis Renz dazukam und sie plötzlich Uraltpaar Nummer vier waren, jeder für sich noch ansehnlich, ein Bild von Frau und Mann, aber zusammen das Anti-Paar, mit seinen Strandliegen oft meterweit auseinander und abonniert auf das größte Zimmer in dem kleinen Hotel.
Das Charela Inn: an der Beachfront ein gestreckter zweistöckiger Bau mit geweißten Mauern und geweißter Holzveranda, mehrfach überstrichen wie bei alten Schiffen; eine Außentreppe führte zu den oberen Zimmern, die teuersten mit freiem Meerblick, der rückwärtige Teil lag rund um einen tropischen Garten mit ebenfalls rundem Pool in der Mitte, alle Zimmer zum Innenhof, und auch von dort nur ein Steinwurf zum Strand; das Meer türkisfarben, wie aus sich selbst heraus leuchtend, in den Vormittagsstunden glasklar, fast paradiesisch, wenn zwei Rochen durchs Flache glitten. Vilas Beschäftigung am ersten Tag: Lesen und auf ein Rochenpärchen warten. Ansonsten nur ein paar Worte mit den Getränke- und Zigarettenverkäufern, die auf jeden zueilten und Respect man! riefen und, wenn man schon nichts kaufte, wenigstens ein Abklatschen und etwas Witz verlangten. Die Amerikaner waren darin Meister, und jeder Witz kam zurück, und Vila hätte manchen Strandhändler am liebsten in die Mitternachtstipps gebracht, als unermüdliche One-Man-Show, trotz ihrer Lasten auf Schultern und Kopf, frischgepressten Säften in Flaschen und einem nofretetehaften Turban, gefüllt mit Zigaretten und einer Spezialware, die sie nur mit gemurmeltem Smoke smoke? anboten, schon morgens selbst bekifft. Das war Negril, Jamaika, jedes Jahr dasselbe, auch die immer selben Lieder von den immer selben Strandsängern, No woman, no cry, der unsterbliche Bob Marley, oder die nicht totzukriegende Matilda. Renz gab jedem Sänger Geld, seine schwache stärkste Seite; er war mit den Sängern, wie sie mit den Händlern war. Und die schwächste schwache Seite: sein Fischtrip zwischen den Jahren, an dem Tag, der als Geburtstermin für ihren Sohn berechnet worden war.
Weitere Kostenlose Bücher