Liebe in groben Zügen
am See zu beten. Die Tage vor Natale sind kurz, ihre dunklen Stunden sind lang, seine einzigen Verbündeten: die Vögel und die Zeit. Wenn er die Landzunge einmal abgeht, immer am Wasser entlang im Gezwitscher, ist eine Stunde um; Regen und Nebel lösen einander ab, und am kürzesten Tag des Jahres endlich die Sonne. Franz zieht die Kutte aus und spült sie im See, er legt sie auf den Uferfels. Dann sammelt er, wie geschrumpft in seiner Nacktheit, ein paar der abgefallenen Oliven und kaut sie. Er weint und weiß es nicht, an den hohlen Wangen laufen Tränen herunter, wie der Urin an den Beinen. Sein Kleid ist am Abend noch naß, die Nacht verbringt er nackt im Laub, ein Rascheln bei jedem Atmen – bis zum Morgen sein Anbeten gegen die Versuchung, sich am Laub zu reiben. So schläft er ein, mehr Ohnmacht als Schlaf, und wacht erst auf, als die Sonne schon durch die Oliven blitzt. Er will sein Gewand holen, aber wo es lag, steht ein Weidenkorb. Und dann sieht er dunkles Haar, das sich pendelnd bewegt, und zwei helle Arme: die der Wäscherin aus Torri, die das Gewand über einen Stein zieht, damit sich der Schmutz daraus löst. Noch hat sie ihn nicht bemerkt, nur weiß sie, daß jemand da ist – sich verstecken hieße lügen. Und eigentlich geht er morgens zur Kapelle des Vigilio, um dort zu beten, was er erst tun kann, wenn er nicht mehr nackt ist. Die Wäscherin hat nicht nur seine Kutte, sie hat auch die Zeit in der Hand, die eigentlich Gott zuteilt, also ist sie von ihm geschickt. Franz bedeckt seine Blöße mit taunasser Erde, er reibt sich auch das Gesicht ein, um als anderer zu erscheinen. Je weiter von mir, desto tiefer in mich: sein Gedanke, sein Bestreben, nur Gott als Gefäß zu dienen. Die Wäscherin hebt den Kopf, in den Händen sein Kleid, das Haar fällt ihr über die Schultern, regungslos steht sie da, die Augen auf die erdige Gestalt gerichtet, und er spricht sie in der Sprache des Herrn an. Ischáh sagt er, Frau, hab keine Angst, ich bin der aus Assisi! Er ruft es ihr zu, zweimal, dreimal, fast ein Gesang, während die Möwen kreischen und sie mit bloßen Knien in den Kies fällt. Zwischen Rosmarinbüschen führt neben dem Fels ein steiler Pfad an den See, schnell ist er bei ihr, sie schließt die Augen und flüstert etwas, immer wieder im Gekreisch der Möwen; erst als er wie sie auf die Knie fällt, versteht er die Worte. Seine Schwester will sie werden und mit ihm ziehen, er soll ihr das Haar nehmen. Jetzt. Sie hält ihm eine Klinge hin, die Augen weiter geschlossen, und er denkt an die, der er als erste das Haar geschoren hat, in einer Hütte bei San Damiano, noch ungeübt, mit schwerer Hand: an die Schwester der Schwestern, mit der er auch einmal den Tisch geteilt hat, ihr Wunsch, nicht seiner. Es wird schmerzen, sagt er und nimmt der Wäscherin die Klinge ab, eine, wie man sie zum Häuten von Kaninchen gebraucht.
Am späten Abend hielt der Zug in Peschiera, das Südende des Sees, Bühl nahm dort ein Taxi, aber er ließ sich nicht bis zum Haus fahren. Er stieg im Ort aus und lief den Hang hinauf, sein leichtes Gepäck in der Hand; auf den alten Schindeldächern schon Weihnachtssterne mit Schweif und in einer Bucht des Hohlwegs eine beleuchtete Krippe mit Hirten und Christkindpuppe, wie früher in Zartenbach, wenn er die Tage vor Weihnachten bei Tulla verbrachte, weil die Eltern zu tun hatten. Wenn sie wirklich verwirrt war, könnte er die Dinge vielleicht entwirren für sie. Angeblich saß Tulla den ganzen Tag nur herum, die geschnitzte Teufelsmaske im Schoß, eine Gefahr für sich und andere, aber daran wollte er nicht glauben; wäre dem so, müsste man ihn oder Vila auch entmündigen, jeden lebendigen liebenden, zu allem fähigen Menschen.
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X
WEIHNACHTEN , zerbrechlichste Tage im Jahr, selbst unter Palmen nicht sicher vor einem Sprung, einem Bruch; Katrin hatte im letzten Moment abgesagt, ein Anruf am Abend von Vilas und Renz’ Ankunft in ihrem Hotel mit dem Vorzugszimmer, das sie als Stammgäste bekamen, großer Balkon und freier Meerblick, nur einen Steinwurf vom Strand entfernt.
Ich gehe mit Jeff nach Colorado zum Skifahren: Katrins erste Worte. Jeff, ein Wahnsinnstyp, den sie auch wahnsinnig mag, nur braucht Jeff an Weihnachten seinen Tiefschnee. Tut mir leid, sagte sie, aber im nächsten Jahr bin ich sicher dabei, ihr fliegt ja wieder dorthin, jedem seine Tropen, nicht wahr? Und dann war sie auch schon bei ihrer Arbeit, dem geplanten Aufenthalt am Rio Xingu, und Renz überließ
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