Liebe in groben Zügen
Amen.
*
XII
DAS neue Jahr, für Vila begann es, wie das alte für Renz geendet hatte, mit dem Kappen einer Schnur, nur nicht aus eigenem Antrieb: der gewachsenen Nabelschnur zwischen ihr und allem, was sie nach ein paar Gläsern Wein für das Leben hielt. Ihr großer Fisch waren die Mitternachtstipps, ihr öffentliches Dasein, vierzehntäglich am späten Sonntagabend auf den Schirmen einer in besten Zeiten guten Million Interessierter, die es sich leisten konnten, gegen ein Uhr früh noch fernzusehen, schon vor dem Fernández-Beitrag auf eine halbe Million geschrumpft. Und bald nur noch eine Gemeinde, wie es Fritz Wilfinger, Gestalter des Gesamtprogramms, auf seiner Silvesterparty ausdrückte, als alle Raketen verschossen waren und einige noch mit Glas in der Hand auf einer Terrasse in Bergen-Enkheim standen, in der Ferne die Frankfurter Banken. Aber Sie wirken auch verändert, meine Liebe, oder macht das die Luft hier draußen? Eine Bemerkung nach der Gemeindebemerkung, als würden sich sinkende Quoten im Gesicht niederschlagen. Verändert, was heißt das? Vila sah sich nach Renz um, aber der war im Haus, und die Antwort, fast hinter vorgehaltener Hand, noch wilfingerhafter. Sie sehen aus wie eine, die gerade neu in die Stadt gekommen ist, hier alles noch aufregend findet. Jung.
Und dabei war Wilfinger jünger als sie, Ende vierzig, hielt sich aber für noch jünger, für einen, der alles Neue aufsaugt. Er kam auf die Tipps zurück, die müssten mal auf den Kopf gestellt werden, und als Renz dazustieß, ohne Mantel, fing er von seiner WG-Zeit an, in der er gelernt habe, was Menschen wirklich wollten, besonders die Frauen. Eine WG, sagte er mit dampfendem Atem, einen Arm bei ihr, einen bei Renz untergehakt, in der man nur Häuptling wird, wenn man das Klo schrubbt und den Mitbewohnerinnen zuhört, ohne gleich die Hosen zu verlieren! Wilfinger stieß mit ihr und Renz darauf an, nicht zum ersten Mal, sie kannte die Häuptlingstheorie schon, und im Laufe seiner Karriere hatte er auch allen gezeigt, wie man bei niederen Diensten Haltung bewahrt und Frauen so lange Referenz erweist, bis sie von selbst Blondinenwitze erzählen. Für Renz war er die korrekte Volkstümlichkeit in Person, natürlich mit katholischer Herkunft, einer aus der Messdienerriege, die jetzt für das TV-gläubige Volk Programm machte, aber ihren Nachwuchs gern auf Schulen schickte, an denen Fernsehen verpönt war. Wilfingers erzogene Kinder, Junge und Mädchen, schenkten seit der Knallerei ständig nach, bis Friederike Wilfinger, Designerin von eigenen Gnaden, die Fritz-Wilfinger-Spezialkartoffelsuppe ankündigte, vorletzter Gang zum Aufwärmen nach der Terrassenstunde; ganz am Ende gab es noch Heringssalat, dazu für jeden, der ausgeharrt hatte, eine von der Frau des Hauses gestaltete Erinnerungskarte. Friederike – sie duzte sich mit Vila, seit sie und ihr Mann einmal in Torri waren, eine eher steife Visite – kannte nur zwei Themen, ihre Designerei und die Ehe, und in dieser ersten Stunde des Jahres wurde daraus ein einziges Thema, als Vila ihr eigenes Bett erwähnte. Das Schlafen in getrennten Räumen, sagte Friederike nach ihrer fast leidenschaftlichen Werbung für die Suppe – eine Frage des Komforts oder des Überdrusses, was letztlich gar keinen Unterschied macht. Fritz und ich, wir schlafen auch nebeneinander auf einem Feldbett gut. Gehen wir ins Haus?
Ein Haus mit zu viel Licht, wie in einer Zahnarztpraxis, der Hausherr mit Schürze am Herd, und es war auch die Ankündigung seiner Kartoffelsuppe, die Wilfinger noch den Zusatzschwung gab, um erst aus Renz und dann aus Vila die Luftschlossluft, wie er das bei Sitzungen nannte, herauszulassen. Er hatte das Franziskus-Exposé gelesen und riet ab von dem Projekt, kaum Bezug zu heute, höchstens die Sinn- und Ökoschiene, für einen Zweiteiler zu wenig. Machen Sie was mit Missbrauch, rief er, das kommt jetzt groß, kein schönes Thema, aber wichtig! Wichtig, eins seiner Lieblingsworte, mit Betonung auf dem ersten i; das Programmschema war wichtig, ebenso die Akzeptanz, sein anderes Wort für einschalten, oder das Interaktive mit dem Publikum. Nah an der Zeit dran sein, sagte er und wandte sich damit an Vila. Noch immer mit dem Zusatzschwung in der Stimme erklärte er ihr, dass es für alle, Macher wie Zuschauer, das Beste sei, wenn die Mitternachtstipps in der Form nicht weitergingen: eine überholte Form, Anmoderation und dann ein Filmchen mit Kulturstarlets. Nein, höchste Zeit für eine
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