Liebe in groben Zügen
hatte von ihr, als wäre sie gar nicht Vila, oder er hätte sich all die Jahre in ihr geirrt. Ein, zwei Minuten telefonierte er noch, das verlangte der Anstand, danach sein Bemühen, weiterzuarbeiten, sich Namen für Täter, Opfer, Mitwisser auszudenken, das verlangte die Realität. Und so verging der Nachmittag, und am Abend gab es schon wieder etwas Gewohntes, Vertrautes, auf dem Küchentisch eine Flasche Amarone, aus der sich jeder einschenken konnte.
Vilas Zimmertür stand leicht auf, er hörte, wie sie mit Katrin über Skype irgendetwas besprach; normalerweise rief sie ihn, sobald Katrin vor einer Hütte auftauchte, im Hintergrund ihr schlammiger Fluss, aber an dem Abend rief sie ihn nicht. Und nach dem Gespräch verließ sie die Wohnung und kam erst in der Nacht wieder, er hörte noch die Dusche. Sie hatte Freundinnen, da ging man essen oder ins Kino, mal mit Elfi, mal mit Heide, mal mit einer Inge, Frauenärztin im Nordend, die kannte er gar nicht, ein ganz eigenes Vilaleben, in das er kaum vordrang. Warst du im Kino, fragte er am Morgen, und sie sagte nur Ja. Dann brach sie auf zu ihrem neuen Büro, und er saß zu Hause; sie ging, und er blieb, das war die Aufteilung, und abends in der Küche ein zügiges gemeinsames Essen. An einem Tag kaufte sie etwas ein, am anderen er, und irgendwie reichte es immer für beide, wenn man die Dinge zusammenwarf, eine Art Koexistenz, bei der keiner dem anderen zu nahe kam, bis sie sich Ende der Woche – am Tag des großen Japan-Erdbebens – im Tiefgeschoss des Woolworth kurz vor Ladenschluss geradezu lächerlich über den Weg liefen.
Sie kam vom Gemüse, er von der Käsetheke, und beide mussten sie lachen: ihr bester Moment im März. Nur war Vilas Lachen in der Öffentlichkeit anders als sonst, intimer, so lachte sie manchmal im Bett, über ihren und seinen Sieg, das schnaufend Abgerungene daran, und hier lachte sie auf dieselbe Art neben dem Süßigkeitenregal und nahm dabei eine Tafel Nougat heraus, öffnete sie, brach einen Riegel ab und hielt ihn an seine Lippen, eine Diebin, die ihn zum Mitdieb machte. Sie lachte dann nicht mehr, sie sah ihn herausfordernd an, höchstens noch aus den Augen lachend, ihren Augen, in die er als Erstes verliebt war, noch in der Straßenbahn am Silvesterabend zum Orwell-Jahr neunzehnhundertvierundachtzig. Er ließ sich den Riegel in den Mund schieben, ja geradezu stopfen, sie nahm ihren Daumen zu Hilfe, Armes Schwein, sagte sie. Ohne jedes Bedauern kam das, nur mit einer gewissen Verwunderung über einen wie ihn – im Grunde mehr arme Seele als armes Schwein –, ihn, der eine unendlich Jüngere trösten darf und womöglich bald allein an ihrem Sarg stehen wird. Er kaute die Schokolade, keiner hatte den Diebstahl bemerkt, die Überwachungskameras waren woanders, sie müssten die Tafel nur aufessen, ganz verschwinden lassen. Los, iss, sagte er in der stillen Gasse zwischen den Regalen; sie waren die letzten Kunden, bevor der Woolworth samt dem Laden zumachte, sie könnten sich auch verstecken und einschließen lassen: ein Gedanke passend zum Schokoladenklau. Und wenn sie erst eingeschlossen wären, kämen sie nachts schon irgendwie zueinander, mit Whisky und Chips von unten und aus dem Erdgeschoss ein paar der Trainingsanzüge für den langen Tag der Arbeitslosen, ihre Matratze. Er hatte Lust auf Vila, seine Frau, er wollte sie schreien hören zwischen all dem Zeug, das nichts wert war, Jeans für zehn Euro, Fleecejacken, Turnschuhe, Filzmäntel. Wirklich ein armes Schwein, sagte sie, als sei er ein offenes Buch; sie hatte zwei Riegel gegessen und hielt ihm den Rest hin, Tränen in den Augen, Tränen der Wut, weil ihre Worte an ihm abrutschten, jedenfalls äußerlich, so wie in den ersten Jahren manchmal ihre Spucke, wenn es sonst keine Mittel mehr gab, etwa in Ägypten vor den Pyramiden. Er hatte sich geweigert, eine Minisphinx zu kaufen, Die bescheißen einen nur, sagte er, und sie spuckte ihm ins Gesicht, und die Andenkenleute, zwei Männer in Kutten, konnten es kaum fassen und hoben ein Gezeter an, als seien sie selbst bespuckt worden. Was macht deine Arbeit, was macht das Leben, vermisst du nichts, Zärtlichkeit? Drei Anläufe für eine Frage, die er loswerden musste, und Vila trat ihm ans Schienbein, ein Schmerz, den er ignorieren konnte, wie mit einer jahrhundertealten Energie – seine früheren Inkarnationen: Panzertier, Märtyrer, Landsknecht, etwas in der Art. Er streichelte ihre Hand, die noch den Schokoladerest hielt, und
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