Liebe in groben Zügen
hatte er Wein getrunken, einen Montepulciano, er war nicht der Typ, der bei Pils und Fingerfood an einer Bar jedem erzählt, dass er gerade aus dem Kanzleramt kommt; stattdessen leise Worte zu Bühl, kaum dass er ihn als komischen heiligen Wintermieter erwähnt hatte, immerhin mit dem Missbrauchsstofftipp. Bühl, sagte sein alter Internatsfreund, suche wohl Kontakt zu ihm, bei der Veranstaltung in Aarlingen sei ihm etwas in den Schnee auf der Motorhaube geschrieben worden, lateinische Worte, Catull. Und Sie, waren Sie Lateiner? Eine Frage beim zweiten Glas Wein, nach dem Anstoßen, und seine Antwort: Ja, aber alles vergessen! Und vom Vergessen war es nur ein Sprung zum Behalten, was sich jeder am besten behalten kann, Kilian-Siedenburg Zahlen aller Art, aber auch ganze Gespräche, vieles zwischen ihm und Bühl könnte er auch nach all den Jahren noch wiedergeben, und er, Renz, sprach von Filmen, die sich ihm eingeprägt hätten. Und dann stellten sie fest – damit war der Kontakt geschaffen –, dass sie denselben Lieblingswestern hatten, Tom Horn, mit dem schon todkranken Steve McQueen. Schnörkellos, sagte Kilian-Siedenburg. Und die Story so simpel: Alter Revolverheld wird von Viehzüchtern engagiert, um Viehdiebe zu erledigen, aber geht so gründlich vor, dass es den Auftraggebern angst und bange wird. Sie wollen ihn loswerden und erschießen mit einem Gewehr seines seltenen Kalibers einen Jungen. Horn wird der Mord in die Schuhe geschoben, es kommt zum Prozess, und er verteidigt sich mit keinem Wort, ja nimmt das Todesurteil an, weil es zu seiner Existenz gehört. Richtig? Eine Frage beim dritten Glas Montepulciano, und er, der frühere Filmkritiker, war gerührt über diese Kurzfassung – da hatte jemand hingesehen wie er selbst. Und das Ende, sagte er, unvergesslich. Als Tom Horn unter dem Galgen steht: der bis zu dieser Rolle immer noch irgendwie junge und plötzlich alte, kranke McQueen, der den eigenen Tod vor Augen hat, eine der eindringlichsten Sterbeszenen im Film. Horn selbst löst den Falltürmechanismus aus, sein Gewicht öffnet ein Ventil, Wasser läuft in einen Bottich, macht ihn schwer und schwerer. Eine grausame Minute zwischen Leben und Tod, vor dem Galgen ein erstarrtes Publikum. Ich habe noch nie so viele bleiche Sheriffs auf einem Haufen gesehen, Horns letzte Worte, grandios. Sie sehen müde aus, wollen wir schlafen gehen? Am Schluss eine fast intime Frage, und sie hatten sich vertagt.
Das Bierdosenfähnlein zog weiter, Renz folgte dem Klappern, am Kempinski vorbei, als würde das Treffen doch noch stattfinden, und von dort ging es den alten Ku’damm hinauf, ohnehin seine Richtung. Er wohnte im Hotel am Zoo, gerade noch bezahlbar im gewohnten Teil der Stadt, mit dem neuen wurde er nicht warm, seit über zwanzig Jahren nicht, ganz anders als Marlies, die nur im Osten abstieg. Sie hatten sich Anfang Februar in Berlin getroffen, für einen Tag und eine Nacht, und auch von teamartfilm eine Abfuhr in der Franziskussache bekommen: allenfalls dokutauglich, mehr als eine Abfuhr. Danach waren bei ihr die Metastasen festgestellt worden, was aber nur hieß, dass sie die Art von Einblick erstmals erlaubt hatte; ihr Schwenk zu dem Missbrauchsstoff dann schon ohne Glauben an ein gutes Ende, eine Ausstrahlung an zwei Abenden, die sie noch miterleben würde. Eine Frau lief neben ihm her, eben war er noch allein, plötzlich war er zu zweit, Wollen wir Spaß? Groß war sie und brünett, ein Mädchenmund und die Stirn einer besorgten Mutter. Viel mehr als die paar Worte konnte sie nicht, dafür sprach sie gut Englisch, sie war aus Ungarn, angeblich Studentin, früher nebenher Model, viel in Mailand, ein paar Brocken Italienisch konnte sie auch, fast mehr als er, eine Unterhaltung im langsamen Gehen. Hundert Euro sollte die komplette Stunde in einer Pension kosten: very complete e molto buono, sagte sie, da ließ er sich schon abführen wie von einer Zivilpolizistin, und sie machte weiter mit Konversation, damit er unterwegs nicht noch absprang. Sie sprach von Mailand, dass sie sogar bei Lagerfeld einmal dabei war, und irgendwie wollte er dagegenhalten, sprach von dem Haus am See, Lago di Garda, und sie kam auf George Clooney, auch mit seenahem Haus, aber am Lago di Como. Schöner Mann, sagte sie auf Deutsch, but he is gay! Und dann folgten alle möglichen Details, die wollte sie von ihren Modelfreunden haben, for sure. Clooney also schwul, kaum zu glauben, mehr als eine Enttäuschung. Incredibile, sagte er,
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