Liebe in groben Zügen
sie rief Arschloch, dermaßen laut, dass eine Angestellte vor dem Gang erschien, aber da war sie schon weg. Und er zahlte die Tafel Nougat und ging allein essen und schlich sich später in die Wohnung, und am nächsten Tag war Vila ganz weg. Ihre Tasche für eine Nacht fehlte, noch kein Grund, im Sender anzurufen; genau das tat er aber und erfuhr, dass sie in Köln war, einen Kandidaten für das neue Talkformat treffen sollte.
Das berühmte Zärtlichkeitsbedürfnis: letztlich das Bedürfnis, selbst zärtlich zu sein, nicht zu spucken, nicht zu treten, auch nicht mit Worten zuzuschlagen, sondern den, der nach Zärtlichkeit verlangt und uns ihrer wert erscheint, zu streicheln, eine klare Sache, wenn man nur etwas neben sich tritt, Abstand gewinnt, gerade so viel, dass man die Anzeichen der eigenen Wünsche erkennt, die Signale ihrer Zusammenballung, wie die Beobachter in Fukushima die Signale einer Kernschmelze, ohne ins Innere des Reaktors sehen zu können.
Renz verfolgte das Geschehen dieser Tage in jeder Nachrichtensendung, seit dem elften September und dem großen Weihnachts-Tsunami hatte es kein solches Schauspiel mehr gegeben, und je mehr die Katastrophe fortschritt, desto mehr drängte es ihn nach München, trotz aller Beklemmung durch Marlies’ Zustand; er wollte seine Hand auf ihre Wange legen, an ihren Hals, auf ihre Brust – der man nicht ansah, was unter ihr vorging –, auf ihren Bauch und zwischen die Beine, er wollte zärtlich sein, die Krebsstäbe kühlen, aber sich nicht verstrahlen lassen. Marlies ja, ihr Drama nein. Also ein Hin und Her, Anrufe, Pläne, Zusagen, Absagen, Schweigeminuten zu Lebzeiten, und um das alles auszuhalten, ja sogar Nutzen daraus zu ziehen, stürzte er sich, wenn er nicht vor dem Fernseher saß, in die Arbeit, statt nach München zu fahren. Jeden Tag der Entwurf von fünf Bildern zu einem Treatment für seinen Zweiteiler, Teil eins in einem Internat, späte achtziger Jahre samt Wende, Teil zwei in einer Frankfurter Realschule, das ehemalige Opfer jetzt Lehrer, unfähig zu tieferer Bindung, aber umworben von einer Kollegin. Es ging voran, nur war es ein Schreiben über die Dinge, nicht in den Dingen, mehr ein stures als ein gutes Pensum. Und trotzdem am Abend das gute Gefühl des Getanen und das verdiente erste Glas in der Küche, gleichsam zu zweit mit einer blonden, sich scheinbar nur an ihn wendenden Nachrichtenfee; sie sagte Fukushiima, mit langem i, nicht Fukushima, mit kurzem u, das wäre auch Vila aufgefallen, darüber hätten sie geredet beim Wein.
Seit drei Tagen hatte er nichts mehr von ihr gehört, trotz der Tasche für eine Nacht, und so mitreißend war Köln nun auch nicht, das Museum Ludwig kannte sie, da waren sie zusammen, blieb noch der WDR, da gab es alte Kollegen und vielleicht auch eine neue Verwendung für sie, wieder ein Magazin für die Schlaflosen, das würde sie beide glücklich machen. Als sie vor neun oder zehn Jahren, mit Anfang vierzig, eine Wahnsinnsnummer von Frau, ihre Mitternachtstipps bekam, strahlte sie abends im Bett wie seit Jahren nicht mehr, Komm, pack mich: ein Überschwang, hastig geflüstert, das hatte er noch gut im Ohr, und einen Moment lang der Gedanke – im Fernsehen jetzt die uralten Bilder der schwarzen Tsunamiwelle, die alles Leben mit sich fortgeschwemmt hatte –, noch einmal einen kleinen Hund anzuschaffen, was Vila in den Jahren ihrer Sendung nie wollte, einen Kasper zwei, mit dem ihrer beider Leben wieder so in Schwung käme wie damals mit Kasper eins: die erste Begegnung in einem Tierasyl, lauter kleine Waisenhunde, aber nur einer sprang sofort auf ihn zu, sein Schwanz ein Propeller, der Blick zum Steinerweichen, und er sagte He Kasper, eine Eingebung. Die Wohnungstür ging auf, er fuhr sich durchs Haar und stopfte sein Hemd in die Hose, dann schon Vilas Schritte im Flur, ihr sachtes Auftreten auf dem Parkett, als sei es Nacht, die Zeit der Rücksichtnahme; sie lief im Mantel an der Küche vorbei, blieb aber noch kurz stehen. Es ist viel schlimmer als Tschernobyl, sagte sie, und er war der Katastrophe in Japan dankbar, wenn man einer Katastrophe dankbar sein kann. Ja, das glaube ich auch – seine Entgegnung, als sie schon im Bad war, fast der Anfang eines Gesprächs, wenn nicht eines ganzen Abends. Und was denkst du noch, fragte er. Es wird sich hier alles ändern, nicht wahr. Sie werden die Meiler dichtmachen, jeden, viel eher als geplant, wer noch gewählt werden will, muss fürs Abschalten sein, auch wenn die
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