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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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auftaucht, so klein ist die Welt. Oder er hätte schreien müssen, hier bin ich, hier, du gehst mit deinem Gepäck zu dem Falschen! Aber er hatte auch im Hölderlin nie geschrien, nie. Schon seit Aarlingen ist alles Laute in einer Kapsel und rundherum Stillschweigen, eine Stille wie in der Hauptgasse von Torri um diese Zeit. Noch war Mittagspause, auch wenn das Traghetto schon wieder fuhr; nirgends ein Mensch, und die ausgelegte Ware vor den Läden zugedeckt. Nur ein Ständer mit Ansichtskarten vor einem Tabacchi war zur Besichtigung frei, auf einigen der Karten alte Torri-Fotos, auch von der Gasse, als dort noch mäusehafte Fiats fuhren und auf Treppenstufen weiße Katzen dösten und jedes dritte Geschäft ein Friseur war, die Inhaber in ihren Kitteln müßig auf der Türschwelle, über allem eine lüsterne Verschwiegenheit. Und heute nichts mehr davon. Statt der Frisöre Eissalons von Designern und eine letzte Katze, die davonschlich, als er näher kam; alles Übrige hinter geschlossenen Fensterläden, das Italien, in das ein Fremder kaum eindringt, das auf gerahmten Fotos von prallen Hochzeiten und schmalen Tanten und Männern in bunten Trikots auf ihren Rennrädern. Aus dem Tabacchi-Laden kam leise Marschmusik, und Bühl trat durch die offene Tür in ein Labyrinth aus Zeitschriften, Magazinen und Büchern, aus Rauchwaren und Schreibartikeln, hinter der Kasse ein Spitzbartgreis, in der Hand eine der Ansichtskarten mit altem Foto. Umsonst, sagte er auf Deutsch und hielt sie ihm hin, unklar, warum. Ihm blieb nur, leise zu danken und mit der Karte aus dem Laden zu gehen. Er ging zum Hafen und bestellte unter den Hotelarkaden ein Bier; außer ihm dort nur eine Bikerin in Montur, das Gefährt fast mit am Tisch. Der kleine Hafen hatte die Form eines Tropfens, die vertäuten Fischerboote mit Frauennamen, Gazza, Agnese, Carmen. Er sah sich die Karte an, das Foto hundert Jahre alt, es zeigte den Hafenplatz, sonnengrell, darauf nur ein einzelner Mann, dunkle Kleidung, dunkler Hut, vor sich einen kurzen Schatten, vielleicht ein Priester. Am Lungolago, der Promenade, gab es ein Haus für alte Priester und Schwestern, abends sah man sie am See, die einen noch immer in Schwarz, ihre Begleiterinnen in Weiß. Hätte es vor achthundert Jahren schon Fotografie gegeben, wäre vielleicht Franziskus auf einer der Karten, wie er am Hafen mit einer jungen Wäscherin spricht, in seiner Kutte vor ihr steht, in der Hand ein Säckchen mit Zitronensamen. Franz will die Zitrone am Benacus einführen, die Frucht, die weiter im Süden, bei Rom und auch mitten in Rom gut gedeiht, die Wäscherin kann ihm die beste Erde zeigen. Ihr Haar liegt wie Pelz auf den Schultern, das kann er sehen, es ist zu schön, als dass sie es hergeben würde wie Klara vor Jahr und Tag. Seht her, sagte er, das ist ein Samen, willst du mich zu einem Platz führen, wo er Sonne und fette Erde hat? Wörter zuerst, dann ganze Sätze, die wie aus sich selbst neue Sätze hervorbrachten – Bühl füllte die Rückseite der Karte mit kleiner Schrift, in der anderen Hand sein Bier, ein Satz, ein Schluck. Als das Glas leer war und die Karte voll, sah er zum Nebentisch. Die Bikerin brach auf. Sie zog Fahrradhandschuhe an, schob sich ein GPS-Gerät in die Brusttasche und packte ihr Gefährt mit funkelnden Zahnrädern, eine Kriegerin gegen die Jahre. Marlies Mattrainer musste jetzt dreiundvierzig sein. Damals war sie einundzwanzig und studierte schon, unfassbar, wenn man selbst noch auf die Schule geht. Und für immer eingebrannt, wenn der erste Kuss gleich nach Rauch schmeckt.
    DIE Jahre, die Zeit: Renz’ Kampf gegen das Älterwerden bestand vor allem aus Ignorieren. Früher hatte er noch Tennis gespielt, bis Katrin an ihm vorbeizog, jetzt hielt er sich für bleibend sechzig, nur weil er seit längerem nicht mehr rauchte – und auf einmal gab es wieder diese stummen Zigarettenzeremonien zwischen ihm und einer Frau. Seit er mit seiner Besucherin bei einer Spätnachmittagsflasche Lugana am runden Steintisch unter den Bananenstauden saß, hatte er ihr schon dreimal Feuer gegeben. Er sprach sie mit Marlies an, Marlies und Sie, durchaus angemessen, wenn man sich etwas kannte, während sie seinen Namen vermied, aber bei ihrem jedes Mal den Kopf leicht zurückwarf und Rauch ausblies. Bei der letzten Begegnung, ihrem Mittagessen, hatte sie den Kopf noch ruhig gehalten, das war im Frühsommer, keine drei Monate her, und nun war da etwas Neues, etwas Ungelöstes, ein Druck.
    Fangen wir

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