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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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umgestalteten Bahndamms. Eine Strecke von gut einer Stunde, seinerzeit idealer Abendspaziergang, nun mit künstlichen Hindernissen versehen, als sei das Leben nicht schon Parcours genug, die erste Hürde gleich das Zur-Welt-Kommen, irgendwo als Kind von irgendwem, ein Kind, das älter wird, vom Jungen zum Mann, vom Mädchen zur Frau, eine Kette von Hürden, und das sich im Sterben daran erinnert, auch einmal geliebt zu haben. Der Bahndamm, damals im Dunkeln, war trotz langer Helligkeit beleuchtet, ein weißliches Licht auf Gleisen und Aufschüttung; das Mauerwerk, früher wild überwuchert, war bis in Kopfhöhe durch Beton verstärkt, schon mehr Wand als Mauer, darauf Übungspiktogramme zu dem Trimmpfad und bestellte Graffiti. Er ging an der Mauer entlang und schaute nach einem überhängenden Busch, ihrem einzigen Schutz vor dem Regen damals, und trotz aller Bereinigung ragten an einer Stelle noch gekappte Äste aus der Bahndammkante, an ihren Spitzen sogar frische Triebe. Also war es wohl hier, hier hatte er ihren Mantelkragen in die Hände genommen, um den Kopf näher an seinen zu ziehen, was gar nicht nötig gewesen wäre, weil sie ihm von sich aus entgegenkam, und er nahm die alte Position ein, mit Blick auf die Mauer, am Übergang vom Beton zu bemoosten Steinen, eine Rille. Und in der Rille, kaum breiter als ein Daumen, drei ausgedrückte Zigaretten, jede nur angeraucht, als hätte sie auch hier gestanden, Tage vor ihm, und hätte sich mit den Zigaretten erinnert oder getröstet.
    Der Rückweg zu dem Strandhotel dann unter Nutzung des Parcours, ein Rennen und Springen, als ließe sich die alte Zeit einholen, dazwischen ein Hakenschlagen, als wollte er sie bloß abschütteln; und später der Blick von seinem Zimmer auf den Badesteg, auf dem die junge Nichte der alten Mattrainers in ihrem schwarzen Badeanzug in der Sonne gelegen hatte, die Hand mit der Zigarette am Mund, blond, allein, rauchend, eine Mädchengöttin. Es war wenig geblieben von damals, der weiße Schriftzug am Haupthaus, Strandhotel Mattrainer, in schwungvollen Schreibbuchstaben wie das Wort Lebensmittel über einem Laden, in dem seine Eltern immer Kleinigkeiten gekauft hatten, Zahnpasta, Manna-Schnitten, Die Bunte; und es gab auch noch die Veranda für das Frühstück an Regentagen und ihre leicht abfallende Terrasse zum See für das Frühstück bei Sonne. Dort saß er eines Morgens, die Eltern schliefen noch, und las in einem Buch, während zwei Tische weiter eine junge Blonde, die Hoteliersnichte, hieß es, allein frühstückte und dann allein rauchte, die Augen hinter einer Sonnenbrille, die sie dann tagelang aufbehielt. Erst als er sie fragte, ob sie mit ihm rudern würde, und von ihr das verblüffende Ja kam, schob sie die Brille in ihr Haar, eine Geste wie ein erhaltener Schatz auf dem Grund der Jahre. Marlies’ Nenntante lebte noch, aber das Hotel führte jetzt ihr Sohn mit Frau, und der alte Mattrainer, Bruder von Marlies’ Mutter, sah den beiden von einem Foto, gerahmt am Empfang, über die Schulter, während seine Witwe nur noch für Frühstücksbuffet und Bierhahn zuständig war; sie hatte den einzigen Gast dieser Vorsaisontage nicht wiedererkannt, kein Wunder – seine drei Ferienwochen hier waren in einer Art grauer Vorzeit, noch analog und harmlos, keine fünfundzwanzig Jahre her und doch Jahrhunderte.
    Bühl ging ins Bad, die Unterlippe tat ihm weh, schon seit der Fahrt von Triest nach Kärnten – nichts Neues, diese zwei, drei Bläschen, die zuerst schmerzten, dann aufsprangen, dann sich vereinten zu einer offenen Stelle, die nur langsam abheilte, letztlich gab es kein Mittel dagegen. Seit den Ruderhausnächten trug er diesen Schläfer in sich, der plötzlich aktiv werden konnte, wenn etwas zu viel wurde, wie früher Jahr für Jahr auf den Klassenfahrten. Der Vatikan: nie ohne offene Lippe. Die Ramblas, der Wenzelsplatz: immer mit einem Kainsmal am Mund. Heiding hatte noch ein trocknendes Puder benutzt; sobald es warm wurde, alles blühte, sein weißer Fleck auf der leicht bläulichen indianischen Unterlippe. Ein Puderzuckermund, der ihn nach dem Rudern geküsst hat, das war der Anfang – Initiis obsta, hatte sein Vater immer gesagt, aber da hätte er sich nie in einen 6er-BMW setzen dürfen. Sein Vater war dumm, die Mutter auch, kultivierte dumme Leute. Einmal war Heiding bei ihnen zu Hause, er stammte ja auch aus der Freiburg-Ecke, also kam er am Ende der Ferien vorbei, um ihn in seinem Käfer Cabrio mit an den Bodensee zu

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