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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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wischte sich über die Augen, und auf einmal dämmerte ihr etwas, Da war ein Junge, der Marlies gerudert hat, den ganzen Tag, seine Mutter eine Dame mit Tüchern, gern Mittelpunkt auf der Liegewiese: auch den ganzen Tag, sagte sie. Oder darf es ein Obstler sein, aufs Haus? Die Mattrainerwirtin schnaufte vom Reden, und er ließ sich den Obstler servieren, einen Marillenschnaps, Abrundung seiner Käseplatte; danach schon der Rückzug aufs Zimmer.
    Die Dame mit den Tüchern, locker um Schenkel und Hüften, eine andere Form der Theatralik: das Pathos der schimmernden Hüllen. Seine Mutter hatte jede Seidenprobe aus den ersten Importen ihres Mannes für sich umarbeiten lassen und die Resultate auch am Ossiacher See vorgeführt, er besaß noch ein Foto davon: Rita Bühl auf dem Holzbadesteg, um ihre problematischen Bereiche ein Tuch fast von der Größe einer Flagge in allen Regenbogentönen und ein zweites, kleineres um den Hals gelegt – eine Diva, die schon die mondänen Orte scheut, lieber auf dem Land, inkognito, Urlaub macht. Er steht neben ihr, sehnig, gebräunt, in blauer Dreieckshose, das Haar glänzend nass vom Schwimmen, an den Wangen erste Bartschatten, eine Hand um ihre Schulter. Beide lächeln sie in die Kamera des Vaters, ihr Lächeln das einer Kursaalqueen, seines gewollt. Nach dem Urlaub steht das Foto in einem Silberrahmen auf ihrem Sekretär, an dem sie die Kulturabende plant: ihr Beweis, dass sie noch etwas hermacht und einen jungen Geliebten haben könnte. Und eines Abends, bei einem Scotch, den sie gar nicht verträgt, sagt sie das auch, Wir sehen aus wie ein Pärchen, nicht wahr? Und er widerspricht nicht, obschon sein Eindruck ein anderer ist: dass sie wie Behinderte auf dem Foto aussehen, behindert durch eine diffuse Schönheit. Es war das letzte Mal, dass er für ein Foto den Arm um sie gelegt hatte, und je mehr ihm dazu noch einfiel – während im Zimmer schon der Fernseher lief, die Nachrichten vor der Open-End-Sendung –, desto gegenwärtiger wurde ein anderes, älteres Bild, nur von keiner Kamera festgehalten. Er, noch vor den Aarlinger Jahren, in seinem Bett bei gedämpftem Licht und am Bettrand die Dame mit den Tüchern, in dem Fall nur einem Tuch von seidigem Schwarz. Er darf ihr den Knoten lockern, es ist still im Haus, Mittag, nur das Geräusch von Regen am Fenster, angeblich sein Mittagsschlaf, und er will ihn auch halten, doch scheint es ihr lieber zu sein, wenn er nicht schläft, höchstens halb, wenn er noch in der Lage ist, sie zu betrachten und auf ihr Dasein zu antworten. Und später, allein im Bett, meint er, das alles geträumt zu haben – ihr Tuch wie ein überfahrener Vogel auf dem Boden und seine Hände auf dem vorher Bedeckten, dem Problematischen. Und noch etwas später, nachmittags, gräbt er am Rande des Gartens den Boden auf und füllt alle Einkaufstaschen aus der Küche mit schwerer Erde und schleppt sie im Regen vor die Außentür zum Keller, als müsste das Kind einen Säckedamm gegen Fluten errichten.
    Die Vorspannmusik von Open End: wie für den Auftritt einer Kommissarin, Musik vor einer nächtlichen Citykulisse, eher Frankfurt als Berlin, und aus der Kulisse tritt, man weiß nicht wie, eine Frau ohne Alter, Carmen Streeler, schiefergrauer Anzug, weiße Bluse, Gigolofrisur. Die Gäste sitzen schon an einem Tisch – der eigentliche, viel effektivere runde Tisch, könnte man denken –, und Carmen Streeler begrüßt jeden mit Handschlag, erst die Justizministerin, offenbar eine alte Bekannte, dann einen Kirchenvertreter, so rosig weich, wie ein Kirchenvertreter nur sein kann, als dritten Gast einen Schriftsteller, silberhaarig mit regloser Miene, aber in jungen Jahren selbst von der Thematik betroffen. Und am Ende oder last not least heißt sie noch den Initiator einer Stiftung zur Entschädigung von Missbrauchsopfern willkommen, Cornelius Kilian-Siedenburg, und die Einblendung seines Namens ein noch stärkerer Vorstoß in alles Vergangene, als den alten Freund auf dem Flachbildschirm an der Wand gegenüber dem Bett zu sehen – Bühl hatte auf dem Bett gelegen, nun lief er hin und her in dem Zimmer, und es fehlte etwas, um es zu schleppen, ein Gegengewicht wie als Kind im Garten die Beutel voll Erde.
    Der alte Freund trägt einen dunklen Anzug mit racinggrünem Polohemd und erhält gleich das Wort oder den Anstoß, wie Carmen Streeler, ehedem Sportkommentatorin, sagt: den Anstoß als Kenner der Opferszene. Und seine ersten Worte für Bühl dann wie alte Klänge,

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