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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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nehmen. Heiding wurde durch die unteren Räume geführt, er zeigte Interesse an den Bildern, es gab schon den Böcklin, und im Kaminzimmer hingen gewagte Picasso-Drucke, Faune ohne Feigenblatt, beim Kaffee sprach man über den Eros. Dann mussten seine Eltern für zwei Stunden weg, irgendeine Geldsache, aber der Aarlinger Lehrer sollte noch zum Essen bleiben, also waren sie beide allein im Haus, und Heiding nahm sich einfach eine Handcreme der Mutter, damit es nicht unnötig wehtue. Sie machten es in seinem Zimmer, das noch ein Kinderzimmer war, mit Märklin-Eisenbahn auf dem Boden. Und später beim Essen hatte er Magenkrämpfe, es gab sein Lieblingsgericht, wie immer vor der Abreise, Kartoffelpuffer mit Apfelbrei, er bekam nichts herunter. Was ihm fehle, fragte der Vater, und er bekam auch nichts heraus, ihm gegenüber der sympathische Herr Heiding: ein Wort seiner Mutter, von der Sorte hatte sie viele. Er sagte nichts, und er aß nichts, er saß stumm vor dem vollen Teller und war kein Kind mehr, aber auch noch kein Junge. Ein sprachloses Kind mit Schwanz, das war er. Also musste er warten, bis er mehr als ein Junge war: ein Fünfzehnjähriger, schon gebaut wie ein Mann, sein Haar noch wilder als Heidings. Und in einer Juninacht, als sie nach dem Rudern noch beide hinausschwammen, eine jähe Idee, die Art von Idee, wie sie Franz in der Nacht von Spoleto für eine Stimme gehalten hatte – warum er Kriegsknechten nachlaufe, statt dem Herrn selbst zu dienen. Er schwamm diesem Mann nach, diente ihm und würde ihm wieder dienen, warum nicht das Ganze beenden? Er war der Stärkere im Wasser, und es war dunkel, ein Geistesblitz, nicht der erste in Aarlingen. Schon an seinem Ankunftstag, als die Eltern, damals noch im Opel, um die Ecke gebogen waren und er, zehnjährig, mit einem Koffer die Treppe vom Hesse-Saal zum Sportplatz hinunterging, die plötzliche Klarheit, dass zwischen ihm und den bolzenden Jungs immer ein Graben wäre: dass er hier zu sich selbst halten müsste, um zu überleben. Erst als er zwölf war und Kilian-Siedenburg nach den Sommerferien das Internatszimmer betrat, fing eine neue Zeit an, ein anderes Leben, das Leben in Freundschaft – noch etwas auf dem Grund der Jahre, aber etwas, das von dort aufstieg: später am Abend Cornelius’ Auftritt bei Open End, Vila hatte ihn noch am Morgen daran erinnert, Schau dir das heute an! Bühl wusch sein Gesicht, dann ging er in die Wirtsstube, bei sich das Notebook und die Franziskusblätter.
    Ein Raum aus hellem Fichtenholz, nüchterner Abkömmling der einstigen Stube mit ihren dunklen, von der Zeit getränkten Bohlen und Balken. Er bestellte die Käseplatte und ein Bier, der Mattrainersohn im Hollister-Shirt nickte nur, und seine Mutter, noch in absurder Tracht, zapfte das Bier und brachte es an den Tisch. Das Notebook und die Blätter, ein Wall, hinter dem er nachdachte, über sich, über Vila, über sie beide, Hände auf dem Kopf, Augen geschlossen, leicht theatralisch, so wie jedes Nachdenken über Liebeslösungen. Und auch alles, was er sich vorstellte, ein weiteres Wochenende, eine kleine Reise, die gemeinsame Flucht, ja sogar den Tod von Renz: ein Stück Theater, aus einer alten, erprobten Haltung heraus – bei Heiding, der auch Geschichte gab, musste man in der Unterstufe oft mit auf den Kopf gelegten Händen und geschlossenen Augen im Klassenraum sitzen, Strafe für Lärm und Gerenne, während Heiding durch die Reihen ging und von römischen Sitten erzählte; nur hatte für ihn, Schüler Bühl, diese Haltung bald jede Bedeutung als Strafe verloren, im Gegenteil, sie war der Zugang zu allen Träumereien. Die alte Mattrainerwirtin brachte die Käseplatte, und er sagte in einem Atemzug, dass er als Junge mit seinen Eltern hier Urlaub gemacht habe, drei Wochen im August, und in der letzten Woche sei die Nichte ihres Mannes zu Besuch gekommen: wie es ihr gehe, ob sie Kinder habe, was sie beruflich mache – Fragen, auf die er keine Antworten brauchte, aber die Antworten dann doch überraschend. Kinder, die hätte sie haben können, ja, stattdessen jetzt ein Krebs wie ihre Mutter und deren Mutter, ewig zu viel Kummer, zu viel Arbeit. Und dann hier ihr Zusammenbruch nach einem Spaziergang auf dem Trimmpfad, Notarzt, Krankenwagen, Spital, aber dort wollte die Marlies nicht bleiben, immer schon mit ihrem Kopf, sie wollte nach München. Und mein Sohn, sagte die Wirtin, fuhr sie hin, und nun liegt sie in einer privaten Klinik. Wollen Sie noch ein Bier? Sie

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