Liebe in groben Zügen
Lebzeiten als Komponist keine Rolle gespielt hatte, immer Dirigent fremder Werke war, daran auch mit zugrunde ging: ihre Vermutung, weil jeder und jede zugrunde geht, wenn der Zweifel überhandnimmt, ob man sich je selbst erlebt hat oder nur die Erfüllung von anderen war. Sie fuhr hier wenigstens selbst, das war ganz sie: sie am Steuer dieses BMWs, der jetzt aus der Enge des Tunnels in die Weite der Nacht kam, eine Frau mit Mann und erwachsener Tochter und einem Geliebten oder Liebhaber, wenn es da einen Unterschied gibt, aber auch der könnte nicht helfen, all das in ihr sauber zu trennen, weil sie alles zugleich empfindet, sich als Frau, Mutter, Geliebte und Person, die beruflich nach Mailand fährt und nicht weiß, worauf sie hinauswill. Sie wusste nur, was im Augenblick das Beste wäre, nämlich eine Pause zu machen. Also hielt sie an der nächsten Raststätte, die Unzeitstunde vor der Dämmerung; sie tankte und trank Kaffee, sie aß ein Sandwich und rauchte. Und hellwach in ihrer Erschöpfung ging es weiter, Bellinzona, Como, Mailand – der Autobahnring, doch eine Hölle, auch schon frühmorgens, eine Hölle, mit der sie fertigwurde. Spur wechseln, Spur halten, Gas geben, Bremsen, Hupen, mal die Straße vor ihr im Auge, mal die Dinge im Rückspiegel. Gegen sieben war sie am Hotel, gleich daneben der bewachte Parkplatz, eine Garage brauchte sie nicht. Sie frühstückte in einer Caffè-Bar, das alte Glück mit Renz auf den Reisen, die kleinen Tische, das Kommen und Gehen, der feuchte Kassenbon auf dem Unterteller. Nach Toast und Espresso vertrat sie sich noch die Beine, ein diesiger Aprilmorgen, vor der Häuserzeile neben dem Hotel Platanen, die frischen Blätter staubig. Ein Mann im Trainingsanzug führte seinen Hund aus, Kasper in alt, schleichend, aber noch neugierig. Sie ließ ihn an sich schnuppern, an beiden Schuhen, dann machte sie kehrt und konnte bald auf ihr Zimmer; das Hotel alles andere als voll, ein verglaster Kasten zwischen Autobahnringen und Vorstadt. Dafür war das Zimmer groß und sauber, und nach einer Dusche legte sie sich quer in das Doppelbett, als könnte sie es ganz allein füllen. Ihr Treffen mit dem unerschrockenen Italiener war erst abends um sechs in der Halle; Michele Flaiano, jemand, der sich gern an der Peripherie traf. Er war in Bühls Alter, aber verheiratet. Einen Menschen googeln zu können, ist nur selten ein Gewinn, ihr letzter Gedanke im Halbdunkel.
Sie schlief bis zum späten Mittag, ein nur flacher, immer wieder von Staubsaugergeräuschen und Stimmen zermahlener Schlaf, der Übergang zum Wachsein fließend, noch halb verwickelt in einen Traum, sein letztes Bild – sie und Bühl auf dem Meer, das Meer so flach, dass sie darin stehen können, und er weist von Horizont zu Horizont, sagt: Das alles gehört dir! Und sie dabei erregt, wie ein Teil des Meeres, dem die Wellen der Erregung zustehen. Nach dem Erwachen noch ein Liegen am Bettrand, ein Stück Laken zwischen den Beinen – die meisten Männer wollen es am späteren Nachmittag, sie nicht. Sie will es mittags. Gegen Abend vertreibt man die Dämonen, zu ihrer Zeit spielt man mit ihnen. Am Ende dieses Sommers wird sie dreiundfünfzig, und an Tagen wie denen mit Bühl ist sie immer noch voller Verlangen und schön, nicht ins Auge springend, keine Venus, aber auf den zweiten Blick schön. Für Leute, die erst ab Mitternacht fernsehen, reicht es vielleicht nicht mehr, die gehen in ihre Fitnesstempel und grausen sich vor jeder Abweichung vom Perfekten. Sie selbst hat es aufgegeben, drei-, viermal in der Woche gegen weicher werdende Arme und Beine ins Unio zu gehen, das Studio um die Ecke, wo sich alle am Abend treffen, Elfi und Lutz, Anne und Edgar, die Gebhards, die Hollmanns, die Schaubs. Und keiner redet mit keinem, ein stummes Tun auf dem Laufband, der Rudermaschine, an allen Geräten – das Martyrium der Profanen, sagt Katrin. Wie absurd dieses Völkchen mit Porsche und Pulsmesser! Katrin sagt immer, was sie denkt, aber sie denkt auch zuerst, während sie, ihre Mutter, oft zu spät denkt: vor dem Denken der Impuls, oder was sie wirklich denkt. Also musste sie sich wappnen, mit Filmen, mit Büchern, mit Namen. Was hat sie nicht alles drauf, von Kant bis zu Richard Rorty, von Freud bis zur Duras und Lady Gaga; sie kann Bob Dylan zitieren und Pasolini, von Fassbinder schwärmen und von Almodóvar. Wenn die Crew einer Serie nach der letzten Folge irgendwo feiert, sie an Renz’ Seite, geht von ihr der meiste Glanz aus: mit
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