Liebe in groben Zügen
etwas, vor dem er sich die Ohren zuhielt, nicht wirklich, mehr eine Geste. Die Hände an den Ohren, vielleicht auch um besser zu hören, lief er weiter hin und her, von der Balkontür zum Garderobenspiegel und wieder zurück, als Cornelius schon von dem Drama der Leute spricht, die ein halbes Leben lang aus Scham geschwiegen hätten – und nun hörte er sie genau, diese Stimme aus alten Sommertagen, als sie mit ihren Waffen in die Wälder ausgerückt waren, Heute ein Eichhörnchen, Bühle, so hatte er ihn genannt, wenn sie eng waren, halbe Brüder, auch im Schilf, Erzähl von Indianergerd, Bühle, was läuft da? Jedes gestohlene Wort hörte er, jedes Stück fremder, unter den Nagel gerissener Scheiße. Scham, wiederholt Kilian-Siedenburg und setzt die filigrane Brille ab, man fühlt sie, und es zerreißt einem das Herz, sentio et excrucior, wie der Lateiner sagt. Und noch im selben großsprecherischen Atemzug erwähnt er den Lehrer Heiding und nennt einige seiner Praktiken, für Carmen Streeler der Moment, den Schriftsteller aufzurufen, wie er sprachlich mit all dem umgehe. Und der Silberhaarige mit schmalem Kopf – er war ihm nur als Name bekannt – rät dazu, bei dem Thema generell mit Worten aufzupassen: Wer von Missbrauch rede, müsse sich auch nach dem Ge brauch fragen lassen und damit dem Vorschriftsmäßigen, wie es viele amerikanische Bundesstaaten noch verlangten, so einfach sei das mit dem Begehren und der Liebe nicht. Der Liebe? Carmen Streeler verwehrt sich gegen das Wort Liebe in dem Zusammenhang, ihre Stunde oder Minute schlägt, sie spricht von der Würde der Opfer und holt sich erst den Beistand des Kirchenmanns, dann den der Ministerin – oder sprechen wir hier nicht über Gewalt? Eine Frage an alle, verbunden mit einer Kamerafahrt um den Tisch, bis zur Ministerin, und die klärt knapp über die Rechtslage auf, reitet dann aber auf dem Wort Aufklärung herum: eine Einladung an Kilian-Siedenburg, seine Idee einer Radikalaufklärung vorzutragen, und er, Bühl oder Bühle, ging ins Bad und wieder ins Zimmer, ging auf den Balkon und lief auch schon zurück; wenn ihn etwas mit Scham erfüllte, dann seine beschämende Aufmerksamkeit. Der alte Freund spricht jetzt mit erhobenem Finger, in den übrigen Fingern der Hand einen Bügel seiner Brille, er spricht von Protokollen aller Vorfälle und Klassifizierung der Folgeschäden, und der schon ältere Autor kann oder will dem nicht länger zuhören. Aufklärung sei keine Polizeiarbeit à la Fernsehen, sagt er. Selbst der, der einen anderen missbrauche, folge, bei aller Gewalt, allem Abstoßenden, im Grunde auch nur dem Bestreben, dass aus zweien eins werde, das immer gültige, letztlich alleinige Prinzip der Liebe – ein unbeendeter Gedanke, die Moderatorin fällt ihm ins Wort, wenn sie ihm nicht über den Mund fährt. Schluss, Thema verfehlt, hier gehe es um Gewalt, nicht um Liebe, ruft sie, und dem Gemaßregelten gelingt nur noch ein Gegenausbruch: Liebe und Gewalt, ein Januskopf, durch kein anderes Gefühl werde man so geschlagen, kein anderes Gefühl erzwinge verlogenere Worte, und wie zum Beweis der verlogenen Worte legt Kilian-Siedenburg seinen Entschädigungsplan auf den Tisch eines Berliner Studios, während er am Ossiacher See die Entschädigung in die eigene Hand nimmt oder nahm, den früheren Freund zum Schweigen brachte, indem er den Fernsehstecker aus der Wand zog.
Und im Zimmer eine Stille wie die im Zartenbacher Haus, wenn mittags die Dame mit den Tüchern verschwunden war und er zurückblieb in einem Meer von Gedanken, sich selbst Geschichten erzählend, ohne zu wissen, wie man erzählt, das eigene und fremde Interesse weckt und wachhält.
Franz auf dem Rückweg von Syrien nach San Damiano, um Klara wiederzusehen nach einem Jahr. Immer mehr hat sich die Reise verzögert, er lag mit dem Nilfieber in Damaskus, in Mazedonien. Dann hat ihn ein Schiff nach Venedig gebracht, da war es schon Herbst, und von Venedig ist er in quälenden Tagesmärschen, noch schwach vom Fieber, zu den Brüdern nach Bologna gegangen. Und die haben von Klara berichtet, Klara, die im Land unterwegs sei, allein wie er, Klara, die ihn gesucht habe, ihre Füße zwei Wunden. Und die jetzt bei den Schwestern am Benacus faste, sei zu hören. Mag alles sein, doch soll er den Wegeplan ändern, weil sie es will? Sie wollte immer viel von ihm, zu viel: daß sie beide eins werden, unzertrennlich. Er aber will mit dem Leidensfürsten eins sein und nicht eine, sondern alle
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