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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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dem, was sie sagt. Ihr Mund ist dann nur trotzdem schön. Ja, ihr gelingt sogar eine Art Einklang mit den Redakteurinnen, die jetzt in allen Abteilungen aufrücken, jede feministischer als sie selbst, geschieden, alleinerziehend, übernächtigt. Und so ungebräunt wie sie, die Sonnenbankzeit ist vorbei – einmal im Jahr geht sie zum Hautarzt, zweimal zur Frauenärztin, sechsmal zur Kosmetikerin, zwölfmal zum Frisör. Ihr Haar wirkt noch voll, ebenso die Brüste. Sie ist keine Vorzeigefrau, sie schwimmt feministisch nur mit. Für ihren Kandidaten, den Ankläger uritalienischer Machenschaften, hat sie einen blassroten Lippenstift eingepackt. Sie will ihm gefallen, aber er muss nicht wissen, warum. Er muss sich nur mindestens einmal vorstellen, wie es wäre, mit ihr zu schlafen. Sie will nicht verführen, bloß verführerisch sein. Man darf sie nicht übersehen – wenn man sie übersieht, beginnt das Sterben: ein Gedanke, der schon Teil ihres Dämmerns war. Sie versank noch einmal, ein zweiter, tieferer Schlaf, der erst mit dem Weckruf endete, dem sich anschaltenden Fernseher, einziger Horizont in dem verdunkelten Raum – ein Kanal mit örtlichen Nachrichten. Irgendetwas Schlimmes war tagsüber in Mailand passiert, Absperrbänder, Blaulicht, Neugierige. Sie ging ins Bad zum Haarewaschen, das musste sein. Und kaum war das Wasser abgedreht, wieder Stille um sie, fiel der Name, den sie schon parat hatte für den Abend, Michele Flaiano, und sie lief ins Zimmer und sah sein Foto eingeblendet. Eine junge Reporterin, furchterregend schön, fasste wohl zum x-ten Mal das Geschehen zusammen. Am Vormittag, als sie geschlafen hatte, war auf den Mann, der jeden Schmutz aufdeckte, ein Anschlag verübt worden, Schüsse von einem Motorrad vor seinem Wohnhaus, er im Koma, der Täter flüchtig. Sie trocknete ihr Haar mit einem Handtuch, sie musste es nicht mehr föhnen, sie musste in Mailand gar nichts mehr. Sie stopfte das gebügelte Kleid in ihre Tasche, nahm den Lift nach unten, bezahlte das Zimmer und lief zu dem Mietwagen; es war bald Abend, aber noch taghell, eine erste Ahnung von Sommer.
    Und Stunden später, eine sternlose Nacht, fuhr sie über den Gotthard auf schon schneefreier Straße, das einzige Auto, das all die Spitzkehren nahm. Auf der Passhöhe stieg sie aus und rauchte in der kalten Luft von zweitausend Metern über dem Meer; tief unter ihr der ewig lange Tunnel, und sie allein auf einem Berg, von dem kein Weg in die gewohnte, die ebene Umgebung zu führen schien. Und selbst bei der Fahrt ins Tal, die Serpentinen hinunter Richtung Göschenen, ihr sicheres Gefühl, dass eine wie sie nie über den Berg ist.
    *

XV
    LIEBENDE glauben, dass sie den anderen verstehen, weil sie ihn lieben, und umso besser verstehen, je mehr sie ihn lieben; nur wer, wie Bühl, dabei noch genug Verstand behält, glaubt auch, dass er dem anderen letztlich nie auf den Grund kommt und das Unbegreifliche an ihm kein Ausdruck von Tiefe sein muss. Ein Glauben mit Folgen: Man kann den anderen dann auch oberflächlich und in seiner Fremdheit lieben, etwa als die Frau, die in ihrer falschen Ehe auch etwas Richtiges sieht, oder den Mann, der an einen Ort reist, an dem er als Junge ein Mädchen geküsst hat, später verheiratet mit seinem engsten Schulfreund (noch später kranke Geliebte des Mannes der Frau, die an einer falschen Ehe hängt); man unterwirft sich also etwas Unbekanntem in der Hoffnung, mit ihm warm zu werden wie mit einer schönen fremden Stadt – oder einer Jugendlandschaft, an der kaum noch etwas wie früher ist.
    Bühl, das Fernglas um den Hals, folgte seinem alten Fußweg am Ufer des Ossiacher Sees, heute Trimmpfad. Der erste milde Abend im Jahr, der gestreckte See blaugrün, halb zwischen Bergen, die noch stille Vorsaison; niemand überholte ihn schnaufend, niemand kam in Sprüngen über den Parcours entgegen, eine Stille wie zum Einatmen. Er suchte den Kussplatz von damals, ein Wunsch nach innerer Ordnung: einem scharfen Bild anstelle des verwischten, nur erschien ihm die ganze Landschaft verändert, kleiner, spielzeughaft. Alles war anders als erwartet, und er war auch zu spät gekommen, Marlies war nicht, wo sie hätte sein müssen, in Steinach im alten Strandhotel Mattrainer, sie war schon wieder abgereist. Der frühere Weg und jetzige Trimmpfad führte von dem Hotel – er war dort einziger Gast, im besten Balkonzimmer mit Seeblick – zu einer Golfanlage jenseits des alten, durch eine Art Facelift, Kunst und Bepflanzung,

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