Liebe in groben Zügen
und ließ sich gern mit Carlos anreden. Vila zog ihr Telefon aus der nassen Tasche. Es war auch nass, aber funktionierte, und sie wählte noch einmal die lange Nummer vom Haus.
TELEFONE , ob smart oder häuslich, sind Objekte des Wartens und der Erlösung, durch ein paar Buchstaben oder gleich eine Stimme – noch vor dem Lieben kommt das Warten, wie der Schüttelfrost vor dem Fieber; wer wissen will, ob er Gefahr läuft, sich zu verlieren, muss sich fragen, ob er schon wartet, nachts etwa wach liegt, das Telefon am Bett (und am liebsten nur skypen würde, als dauerhafte Erlösung vom Warten).
In Torri war es drei Uhr früh, als Bühl nach dem ersten Klingeln das Licht anmachte und nach einem weiteren schon die Verbindungstaste drückte, dann von seiner Seite ein kurzes, fragendes Ja, und nach sekundenlanger Stille, vielleicht auch nur zwei Herzschlägen, ein schnelles Hallo wie geht’s?, Worte, um irgendwie weiterzukommen oder nicht abzurutschen in ein Meer aus Stille, als sei es schon das Ende von allem und kein Anfang. Gut, sagte Bühl und fiel der Anruferin damit ins Wort. Ich habe nachgedacht – Vilas Worte jetzt langsam, gesetzt –, selbst ein vollbezahlter Flug ist sehr teuer. Und Sie haben keine Arbeit mehr, auch durch mich. Ich weiß nicht, was dieser Böcklin gebracht hat, aber Sie sollten das Geld zusammenhalten. Und das Hotel hier ist auch nicht billig. Ich sitze in der Halle, und drei Typen mit Sombreros und Gitarren ziehen hier umher und singen. Können Sie es hören?
Wieder kurze Stille, und dann hörte er den Gesang, deutlich sogar, ein Lied, das an seine Mutter erinnerte, an ihre wehenden Gewänder, ihren Lippenstift. Ja, sagte er, Guantanamera. Und Geld soll man ausgeben. Haben Sie schon Verbindung zu Ihrer Tochter, haben Sie Unterstützung? Er ging jetzt auf und ab, vom Gästezimmer ins Bad und wieder zurück – Unterstützung: ein Wort, das er sonst nie gebrauchte. Kann ich irgendetwas tun, fragte er noch und wollte schon seine Gelddinge ganz offenlegen, aber erzählte dann nur von dem Böcklin, Mondscheinlandschaft mit Ruinen, unter Kriegsumständen in die Soldatenhände seines Großvaters gelangt, der auch schon mit Tuch gehandelt hatte, und in Schweizer Privatbesitz mit demselben Titel eine Fälschung: Ergebnis einer Provenienzprüfung durch das Auktionshaus. Ach so, wie schön für Sie, kam es aus der fernen Hotelhalle, und dann die Bitte um eine Beschreibung des Bildes, alle Details, und er sprach über die Linien und Farben und feinen Striche der Ruinen, als spräche er von Menschen im Mondlicht. Zwei Ruinen, sagte er, und so gemalt, als hätte es nie zwei Nichtruinen gegeben. Wie warm ist es in Havanna? Bühl machte die Tür zur Terrasse auf und trat in die feuchte Kälte, er ging um den Pool. Das kann man kaum beschreiben, das erlebt man am besten selbst! Eine verzögerte Antwort und an sich schon so warm, dass man nichts mehr sagen musste, es auch gar nichts mehr gab, höchstens noch Unsinn. Ich bin müde, erklärte er, obwohl er hellwach war, und von der anderen Seite ein Dann schlaf jetzt! Danach schon ein Geräusch wie das Zerbrechen der Leitung und eine Stille, in der das halbe Du als kleine Vogelfeder auf die Kacheln zu taumeln schien. Bühl zog sich an und suchte nach Ameisenstraßen, ein Gerücke an Tischen und Stühlen gegen die Stille, aber es gab keine Ameisen mehr, sie waren besiegt, es gab nur noch das nächtliche Haus. Unter dem Telefontischchen aber ein Stapel CDs, die meisten mit eigener Beschriftung, Don Giovanni oder einfach nur Callas, Bach, Gillespie, Coltrane, ein musikalisches Chaos. Er entschied sich für Bach, eine der Sonaten für Violine, wie er sie am Beginn einer Ethik-Stunde oft drei, vier Minuten hatte laufen lassen, um die Handvoll Gelangweilter zu erweichen, was allenfalls bei den Mädchen gelang und eigentlich nur bei einer: die ihren Mund streichelte, während der schuleigene CD-Player lief. Und jedes Mal war es ein Akt zwischen ihm und Elli Weiler, wenn er die Stop-Taste drückte, für einen Moment völliger Stille, letztlich schon Höhepunkt der Stunde, den Moment, in dem sie sich beide ansahen, darin einig, dass die schönsten musikalischen Sätze im Nirgendwo anfangen und im Nirgendwo enden – und hätte Franziskus schon Bach hören können, wäre er vielleicht nie mit Pferd und Rüstung aufgebrochen, um sich als Ritter im Kampf zu beweisen, und hätte auch gar keine Bekehrung nötig gehabt. Bach wäre die Bekehrung gewesen.
Er wusste alles
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