Liebe in groben Zügen
Sachen hinein, sagte er zu seiner Mitfahrerin in die Gegenrichtung von München, ich parke noch und komme dann.
Und Marlies Mattrainer stieg aus, in Leggins und einem Pullover, beides grau in grau, wie die weichbeflügelten Falter der Nacht, die morgens manchmal schon tot sind. Sie nahm das ganze Gepäck, ihre Sachen, Renz’ Sachen und um die Schultern je eine Notebooktasche. Es ist vorbestellt, hörte sie ihn noch rufen, als der Wagen schon anfuhr, also nannte sie an der Rezeption seinen Namen. Sie sprach Englisch, und der Mann am Empfang mischte die Sprachen, Your passaporte, please per favore, sagte er und schrieb dann ihren Namen ab, den Geburtsort, die Ausweisnummer, das Ausstellungsdatum, ein stummes, zeitlupenhaftes Tun. Als es erledigt war, steckte sie den Pass wieder ein und trat vor den Eingang. Sie wollte rauchen und sich die Füße vertreten, nur wurde die Gasse zur Oberstadt neu gemacht, bis auf einen Pfad aus den noch alten Steinen war alles aufgewühlt, Rohre und Leitungen lagen offen wie Adern und Knochen der Stadt, dazwischen blanker Fels, und sie ging ein Stück auf dem Pfad bergan, die Hand mit der Zigarette am Mund, ein Bild der Abwesenheit, und im ganzen Gesicht – von nahem gesehen, wenn man sich auf dem Pfad an ihr vorbeigeschoben hätte – winzige Schweißperlen noch vom Tragen des Gepäcks, aber auch schon vom Anstieg, der ihr die Luft nahm (und wohl auch einer Angst, wie sie alle Liebenden haben, vor der Trauer, die auf sie zukommt; jemand müsste ihr also sagen: Hab keine Angst, du hast ihn schon verloren, nur wer). Sie ging weiter, bis die Zigarette geraucht war, dann machte sie langsam kehrt.
Eine Frau allein auf der Straße, rauchend, immer ein Bild der Abwesenheit: des anderen, welcher Abwesenheit sonst – seit der Vertreibung aus dem Paradies nichts Neues. Adam und Eva hatten einander in Unschuld geliebt, also gar nicht, bis die Schlange kam. Vorher gab es keine Abwesenheit, wenn einer von beiden allein durch den Garten Eden zog; ohne Nähe auch keine Ferne. Erst mit dem Sündenfall wuchs das andere im anderen, das Gefühl von Abwesenheit war geboren, der Beginn von Sehnsucht und Liebeswahn, der sich auf jeden richten kann, der nur andeutet, dass er bereit wäre, an dem Wahn teilzunehmen, um ihn gemeinsam aufzulösen. Ein kleines Wann?, wann man wieder anrufe, reicht schon.
Vila trug dieses Wort mit sich herum wie das erste Ichmagdich, das ihr ein Junge geschrieben hatte, noch auf Papier mit Füller, ein Gruß zu ihrem vierzehnten Geburtstag nach den Sommerferien, und seitdem wusste sie, dass dieser achtundzwanzigste August – später nur noch in Torri gefeiert, jedes Jahr an einem langen Tisch unter dem Eckbalkon des Hotels Gardesana – ein Datum der Extraklasse war: ihr goethesches Datum, wie Renz gern sagte. Und der Geständnisgruß mit Füller, Jahrzehnte her, war durch Bühls Wort wieder Gegenwart, was nicht hieß, dass sie sich vorkam wie mit vierzehn, aber auch nicht zweiundfünfzigjährig; sie kam sich etwa so alt vor wie der Mann, mit dem sie telefoniert hatte, als es bei ihr früher Abend war und bei ihm tiefe Nacht.
Beim ersten Mal wollte sie nur überhaupt mit ihm reden, seine Stimme hören, auch sein Erstaunen über ihren Anruf (oder was sonst noch mitspielte – es gibt keine Worte für die Geschichten vor der Geschichte), aber Bühl klang gar nicht erstaunt, er klang ruhig, fast sachlich, wie von Anfang an. Eigentlich hatte sie ihn vor seinem Auftauchen in Torri ja auch schon etwas gekannt, durch die Stunde im Café Dulce, durch das Interview im Park, die Ruhe bei der Vorbereitung, Maske, Ton, Licht, die Ruhe bei den Antworten, immer mit Blick zu ihr, nie in die Kamera. Nur was hieß das, jemanden etwas kennen: dass man zusammen verreisen konnte, wie Renz es tat? Für sie hieß es höchstens, dass man anrufen durfte – das zweite Mal schon am nächsten Abend. Und?, sagte sie. Was geschieht bei Ihnen gerade, stör ich? Er war beim Schneiden einer Zwiebel, das geschah, und es setzte ihre Phantasie in Gang, was er wohl kochte, ob er wohl weinte, ja, wie er seine Abende außer mit Kochen herumbrachte – Leute wie Sie sind mir ein Rätsel! Und von ihm nur ein knappes So?, nicht etwa ein Aha oder Warum lösen Sie’s nicht? Dann kurzes Schweigen, das Messergeräusch, er schnitt einfach weiter die Zwiebel, bis zur nächsten Frage. Sagen Sie, mögen Sie Tiere, Kristian?, ein Name, den sie nur mit Disziplin an das Sie knüpfen konnte, doch es blieb während des ganzen
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