Liebe in groben Zügen
halben Kindern, die er bis zu seinem Ende immer wieder geschluckt hatte. Und heute gehört Viagra zu den Kröten, die einer schlucken muss, wenn er älter wird, dazu der Seniorenpass, mit dem man umsonst in alle Museen kommt und der einem Mann sagt, dass es eng wird mit jüngeren Frauen, es sei denn, er wäre reich, dann macht er auch auf Mädchen in Cathys Alter Eindruck und wird nicht verlegen, wenn sie einen ansehen, und sie sah ihn jetzt an, wie geweckt von der Unruhe in seinem Schädel. Hi. Das kam einfach so, von Mädchen zu Mann oder einem Häuflein Mann auf dem Tunnelboden unter dem Frankfurter Flughafen, dem Häuflein gegenüber ein Wesen, das ihn aufrichten könnte, come on, man, let’s catch a plane to India, aber es stellte nur eine höfliche Frage, Excuse me, what time? Und er sah auf die Uhr, es war kurz nach fünf, shortly after five in the morning, und Cathy, oder wie sie hieß, kam mit Aplomb auf die jungen Beine, nahm ihren Rucksack und ging, take care: Das meinte er noch zu hören oder hörte es aus sich selbst, als sein Finger schon die Taste drückte, die den Schirm wieder erhellt, und die Überschrift Exposé zu einem Zweiteiler über Franz von Assisi erscheinen ließ und unten rechts die genaue Zeit, fünf Uhr elf. Also näherte sich Vila schon dem Kontinent Europa mit den Breiten der Seligen, keine viertausend Kilometer lagen mehr zwischen ihr und ihm, das reichte immer noch für einen Zweiteilerentwurf, selbst mit einem Helden, über den man so gut wie nichts weiß.
*
VIII
DAS Dilemma jedes Erzählens: ganz bei den Tatsachen bleiben, auf die Gefahr hin, nichts Besonderes zu erzählen (Das ist der Herbst, willkommen in der Pfalz …), oder eine eigene Wahrheit schaffen, mit dem Risiko, dass andere sie abtun können, als pure Erfindung. Was bleibt einem bei dem Dilemma? Man kann nur schweigen oder weitererzählen, und dann hilft es, wenn Fakten und Erzählerwahrheit gelegentlich ein und dasselbe sind wie bei Reiseumständen, etwa auf Flughäfen, wo Passagiere nach einer schlechten Nacht mit zu wenig Fußraum und trockener Luft in der bekannten Verfassung ankommen.
Fast eine Stunde nach ihrer Landung kam Vila hinter dem Zoll aus einer der Türen, die ständig auf- und zuglitten, übermüdet, aber noch wach genug, um Renz sofort im Gedränge der Abholer zu sehen. Er hielt ein Notebook und Blumen im Arm und rechnete wohl schon nicht mehr mit ihr; etwas eingesunken stand er in seiner Steppjacke von Paul & Shark da und sah halb zu Boden, das graue Haar fiel ihm über die Ohren, und auch die Blumen, mehr Gebinde als Stängel und Blüten, hingen herunter, alles in allem jemand, der auf einem Begräbnis keine gute Figur macht. Außerdem hatte er Ringe unter den Augen, tiefer als sonst, und er war nicht rasiert, die Stoppeln wie Schmutz an Wangen und Hals, und überhaupt der Hals: ein altes Bandoneon, hatte Katrin einmal gesagt, sicher ein übertriebenes Bild, aber schwer wegzudenken.
Vila ging um das Geländer und trat von hinten an Renz heran, sie holte ihn ab, nicht umgekehrt, aus einer Art Schlaf im Stehen holte sie ihn mit einem Hallo, wie geht’s? Er fuhr herum und sah sie an, Wo kommst du her?, eine hilflose Frage, hilflos wie die Blumen, die er vergessen zu haben schien. Gib mir deine Tasche, sagte er und nahm ihr die Tasche ab, kein leichtes Stück, sie hatte noch drei Bildbände gekauft, die alten Autos von Havanna, die alten Fassaden, der dritte über das Leben von Che Guevara, auf zwei der Fotos an Bühl erinnernd. Auf einem fotografiert Che selbst, ein Schelm mit Kamera, auf dem anderen liegt er auf einem Feldbett, das Haar zerwühlt, in den Händen ein Buch wie ein Groschenroman, darauf aber der Name Goethe, der Titel nicht erkennbar, nur ein Teil des reißerischen Covers, vielleicht Die Wahlverwandtschaften. Sie rollte den Koffer, während Renz an ihrer Tasche schleppte, seine Füße kamen in dem langen Gang zu den Parkhäusern kaum vom Boden: Das war neu, oder sie hatte es noch nie bemerkt. Er tat ihr leid mit seinen vergessenen Blumen und einem Schritt wie Leute in Krankenhausfluren. Sind die für mich? Sie tippte an das Papier um die Blumen, und er reichte sie ihr. Gut, dass du zurück bist, wie geht es Katrin, wird sie fertig damit? Eine Frage fast ohne Luft, danach sein Atmen durch den Mund, der immer noch etwas Anziehendes hatte, ein Mund, der eine Frau zuschanden küssen konnte.
Der Tunnelgang nahm gar kein Ende, Renz mit der Tasche jetzt über der Schulter, das machte ihn
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