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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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blickt, ein absurdes Gefühl von Dankbarkeit, an diesem Leben zu sein und hier, in dem Tunnelgang am Frankfurter Flughafen auf die Ankunft seiner Frau zu warten, ja sich zu freuen auf sie, auch wenn er weiß, dass schon in den nächsten Tagen die Frage nachkommt, ob das überhaupt Freude war und nicht nur der Wunsch, sich zu freuen, die Frage, die ihn immer einholt, auch nach den ersten Nächten mit Marlies. Oder wenn er an das eine Foto von Vila und ihm denkt, ein Bild, als könnten sie gleich an den Starhimmel aufsteigen wie ein Ballon. Sein Vater, er starb kein Jahr später, hatte das Foto, noch auf einem Laptop, gesehen, das seid ihr doch gar nicht, sagte er. Es gab nie einen Ausdruck davon, und Vila hat es irgendwann aus Versehen gelöscht, der Ballon platzte schon am Boden. Und heute bleibt nur ein guter Stoff, um noch etwas Höhe zu erreichen, Franz von Assisi. Er müsste das Ganze allerdings in die Gegenwart ziehen oder noch besser, einen heutigen Christus erfinden, irgendeinen Schwarzafrikaner, der sich aus der Tiefe seines elenden Kontinents in einer Odyssee durch Savannen und Wüsten und über das Meer nach Deutschland durchgeschlagen hat und hier plötzlich Wunder wirkt, Kranke heilt und die Armen speist, der Gewalt und der Dummheit Einhalt gebietet, bis ihn Neonazis erschlagen und an ein Kreuz nageln, jeder Sender würde darauf abfahren, nur fehlt ihm, Renz, dazu die Kraft, der Mut, das Leben, einfach alles, er müsste sich selbst übertreffen, aber wie soll das gehen. Und dennoch fühlt er sich wohl, er hat sein Haus, er hat zu tun, und viele beneiden ihn um seine Frau, er ist so weit gesund und kann noch immer nachts in einem Flughafen auf dem Boden sitzen und sich frei fühlen; er kann Blicke erwidern und italienisch kochen und seinen Wagen auf zweihundertfünfzig beschleunigen, bis eine höhere Vernunft ihn abbremst: Abgeregelt bei Tempo zweihundertfünfzig, heißt es im Handbuch, ein Stopp, der in seinem Alltag sonst fehlt. Mit Marlies wird er gegen die Wand fahren, er ist nicht der Typ des Sterbebegleiters, da muss man Schritttempo halten, und am Ende steht man im Stau, tagelang, nächtelang. Mehr will er gar nicht wissen darüber, mehr wird er sich auch nicht aus dem Internet holen, er wird nicht recherchieren, wie dieses Leiden verläuft, er wird sich nicht mit Fachwissen und den richtigen Ausdrücken wappnen, wozu und für wen. Er muss ohne Eloquenz und ohne Publikum damit fertigwerden, nicht wie diese Halbstars, die im Fernsehen ihre süchtigen Kinder verraten oder den eigenen Krebs ausplaudern. Er wird schweigen, auch wenn er kein leiser Mensch ist, er ist mehr Sohn seiner Mutter als seines Vaters, der nur gelesen und geraucht hat, wenn er nicht in der Praxis war. Aber die Leisen, sagte sein Vater, sind die Lauteren!, ein Wort, um ihm den Witz der Sprache zu zeigen. Marlies’ Krebs, den muss er mit sich ausmachen, wie Vila auch Dinge mit sich ausmacht. Sie hat ihre Welt, er hat seine. Als sie das letzte Mal in Rom waren, wollte Vila unbedingt zum Pantheon, wo schon Katrins Babyschreie gehallt hatten, in diese Kuppel, in der man mit den Augen atmet, während das Licht durch das Auge im Deckengewölbe fällt. Nur wollte sie eigentlich gar nicht dorthin, sie wollte zu einem schäbigen Hotel schräg gegenüber zeigen, dem Albergo Abruzzi, das es aber gar nicht mehr gab – ich habe mir dort einmal, vor unserer Zeit, ein Zimmer angesehen, sagte sie, und er spürte, dass es nur der Anfang einer Geschichte war, einer, die sie bei dem Rombesuch mit Katrin als Baby nicht einmal angedeutet hatte, das war Vila und ihre Intimwelt. Sie will sein volles Verständnis, aber alles von ihr wissen, das soll er nicht, das wäre die Vorhölle, sagt sie: durchsichtig zu sein, entblößt. Während die eigentliche Hölle für sie die Unsichtbarkeit ist, irgendwann nicht mehr gesehen oder angesehen zu werden. Ein weibliches Paradox, hat er lange gedacht, und inzwischen sieht er die Logik darin, auch wenn das Wort Hölle nicht passt. Oder nur Sinn macht, weil sie in den Breiten der Seligen leben. Sein Vater gehörte noch zu denen, die hier eine Hölle mit Hand und Fuß erlebt hatten, den Krieg, und einige Male, jeweils an Weihnachten, kamen die kleinen Geschichten vom großen Grauen, von Hunger und Kälte und Notoperationen unter Beschuss, dem Absägen von Beinen ohne Narkose, dem Zurückstopfen von Gedärm, das herausquillt, den Schreien, die ein Feldarzt ertragen musste, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Schreien von

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