Liebe Isländer: Roman (German Edition)
und »die Kinder« stritten über den Fischereistreik. Abends in der Küche bei Hulda zu sitzen und die erwachsenen Gesichter früherer Spielkameraden eines nach dem anderen in der Tür erscheinen zu sehen war eine halbe Achterbahnfahrt. Ich hatte das Gefühl, mir wurde nicht Bescheid gegeben, es war vergessen worden, an meine Kinderzimmertür zu klopfen und zu sagen: »Huldar, die Kindheit ist zu Ende. Komm raus!« Gleichzeitig waren diese Abende eine wahre Wiederholung dessen, was ich damals hörte, als ich im Kinderzimmer von Garðar lag und einzuschlafen versuchte. Nur heute waren es nicht meine Eltern und meine Tante Frau Margrét, die lachten, sondern wir. Hulda ähnelte ihrer Mutter mehr und mehr und hatte begonnen, genauso wie diese auszurufen: »Nein, das kann ja wohl nicht wahr sein.« Und die alten Spielkameraden erinnerten an verjüngte Ausgaben ihrer Eltern, die damals oft nach Garðar zu Besuch gekommen waren, und hatten jetzt selbst Kinder, die vielleicht in irgendwelchen Zimmern lagen und dem Gelächter lauschten. Die Abende in Dalvík erinnerten mich an glückliche Zeiten, und ihnen folgte eine gewisse Sehnsucht. Sie führten mir vor Augen, dass etwas vorbei war und nie wiederkommen würde. Dass alles weiterging. Dass alles verging. Sie war nur erstarrt, diese Entwicklung.
So verliefen die Abende. Und dann kam das Wochenende.
Die Gläser wurden höher, der Kaffee verwandelte sich in Cola, die Schlucke vom Selbstgebrannten wurden größer, und immer noch wurden Videos geguckt. Die Handlung wurde allerdings kaum noch verfolgt, die Schauspielerinnen und Schauspieler in den Filmen wurdenvielmehr in gewisser Weise zu Gästen, und einige Szenen wurden nur aus Höflichkeit geguckt. Im Laufe des Abends wurden alle zu großen Spaßvögeln, und es wurde ein großer Sport, irgendjemanden durchs Telefon zu »veräppeln«. Wer den Schabernack veranstaltete, war zumeist kurz davor, vor Lachen zu explodieren, während die anderen das Geschehen kichernd und mit Spannung verfolgten. Der Spaß endete meist damit, dass die Person, die anrief, einen Lachanfall bekam, und die anderen mit, und dann kam die veräppelte Person rüber und trank ein Glas mit den anderen zusammen, und es wurde weiter über den Spaß gelacht. Nach und nach versammelten sich alle in der Küche, wo ein kleines Radio eingeschaltet wurde, aus dem zur Untermalung Popmusik von
Kanal 2
klang. Den ganzen Abend erschienen neue Gäste in der Küche, und alle waren willkommen. Niemand klingelte an der Tür, sondern es wurde direkt hereinspaziert, und alle bedienten sich selbst. Die Gäste mischten sich ein Glas und in die Gespräche ein oder verschwanden wieder in andere Küchen. Die Männer saßen am Tisch, erzählten von Telefonstreichen und lachten schallend dazu, während die Frauen sich an der Arbeitsfläche aufreihten und über die Verrücktheiten der Männer lachten. Doch da war noch etwas an all dem Gelächter dieser erwachsenen Spielkameraden. Während ich in der Küche saß, wurde in mir das Gefühl immer stärker, dass ich mich aus dem Bett geschlichen hätte und gerade Bugsy Malone sähe.
Und ich erinnere mich, erinnere mich nicht. Ich erinnere mich daran, in einem neuen Jogginganzug im Bus nach Norden gesessen zu haben. Und ich erinnere mich daran, dass es mir wie ein unglaublicher Zufall erschien, dass die grüne Farbe des Anzugs genau die gleiche war wie die der Fassade von Garðar. An diesem großen, so weit entfernten Haus. Und ich erinnere mich, dass ich nicht immer verstanden hatte, was die Leute meinten. »Doch, das Wetter ist nicht schlecht.« – »Ja, nein, das glaube ich nicht ganz.« – »Sag mal.« Und ich erinnere mich, dass die verbotenen Früchte auf Garðar die Musikanlage in Ingós Zimmer waren. Dass er uns, seinen jüngeren Bruder und mich, weggejagt hat, als er uns dabei überraschte, wie wir daran herumspielten.Ich erinnere mich, dass Ingó damals die Musik von Egó hörte, angefangen hatte zu rauchen und sich langsam in einen Mann verwandelte. Ich hoffte, dass ich niemals so werden würde wie er, und bedauerte ihn im Innersten, weil er seine Laune genauso wenig zügeln konnte wie seine schrille Stimme. Und ich erinnere mich daran, im Bett gelegen und den Lachsalven gelauscht zu haben. Sätze gehört zu haben wie: »Ich bin blank« und »Kreuz vier« und »Jetzt kommt ein Schlemm«. Auch daran, viele Teelöffel zugleich fröhlich in den Kaffeegläsern klimpern gehört zu haben und manchmal nur noch einen, wenn bereits
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