Liebe Isländer: Roman (German Edition)
der Morgen graute, so schrecklich schnell. Mich an einem Ort befunden zu haben, der mich immer ein wenig verunsicherte. Versucht zu haben, in den Gesichtern zu lesen, um etwas zu erkennen, etwas zu lernen. Ich erinnere mich daran, auf einer Reise gewesen zu sein, aber ich erinnere mich an nichts Schlimmes. Weder auf Garðar noch woanders. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals in eine Schlägerei verwickelt gewesen zu sein. Ich erinnere mich auch nicht daran, ins Gesicht geschlagen worden zu sein und dann gehört zu haben: »So ist das Leben.« Ich kann mich daran erinnern, unterwegs gewesen und nach Dalvík gekommen zu sein. Dass ich in diesem Bett im Kinderzimmer gelegen habe. Und wie ich den Kindern winkte und ins Lastauto einstieg. Aber weiter erinnere ich mich nicht.
Nach der Küchenfete ging es weiter ins Café Kultur. Es befindet sich in einem zweistöckigen Haus, unten ist ein Restaurant und oben eine kleine Bar, eine Bühne und eine Tanzfläche. Tische und Stühle an den Wänden entlang. Um Mitternacht begann eine Band zu spielen, und die Tanzfläche füllte sich nach und nach mit Menschen. Meine Cousine saß neben mir am Tisch und klärte mich über die anwesenden Gäste auf. »Guck mal die. Ein fetter Brocken. Frisch geschieden. Tochter eines Reeders.« Meine Cousine schien alles über alle zu wissen. »Guck mal die«, sie zeigte auf ein Mädchen an einem der Tische. »Total schlimm. Betrügt die ganze Zeit ihren Alten, wenn er nicht an Land ist.« Kurz danach zeigte sie mir ehrfürchtig einen Typen, der in einer Ecke stand und den Saal überblickte. »Das ist der Besitzer. Betreibtauch die Shell-Station. Hat vor kurzem ein Gästehaus übernommen und neulich ein Angebot für das Pizza 67 abgegeben.«
Fette Brocken tanzten mit älteren Männern, Cousins mit Cousinen, Mütter und Töchter miteinander, Generationen flossen zusammen. Hin und wieder gab es »Rangeleien«, wie es so schön heißt, doch sie schienen nur ein Teil des Ganzen zu sein und endeten nie so, dass irgendjemand verletzt worden wäre. Lautstarke Streitereien wurden durch Armdrücken entschieden. Dazu leerte sich die halbe Tanzfläche, und alle verfolgten gespannt das Geschehen. Wenn jemand auf der Tanzfläche rüpelig wurde, drehte die betroffene Dame ihm einfach den Rücken zu und tanzte weiter.
Kurz vor Schluss setzte sich ein junger Mann zu mir. Ich glaubte, damals mit ihm Fußball gespielt zu haben, aber er konnte sich nicht an mich erinnern. Hingegen wusste er umso besser, womit ich mich in den letzten Wochen beschäftigt hatte. Meiner Cousine sei Dank. Er begann, mir von seiner Theaterleidenschaft zu erzählen. Behauptete, schon an Laientheatern im ganzen Land tätig gewesen zu sein, und hatte sehr konsequente Ansichten über die großen Theater in Reykjavík: »Also, wer dafür bezahlt wird, zu spielen, kann das einfach nicht genauso gut machen wie jemand, der nicht bezahlt wird.« Er erzählte, dass er immer, wenn er gerade ein Stück spiele, zwischen den Vorstellungen im Theater übernachte. »Möchte diese Welt nicht verlassen.« Dann fügte er hinzu: »Ich glaube, du bist ein Teufelskerl. Du kommst mit mir auf die Party danach, Junge.« Es war etwas Tragisches an diesem Typen, und in dem Moment schien es mir, als liefen alle Gesichter meiner erwachsenen Spielkameraden in ihm zusammen in dem Satz: »Möchte diese Welt nicht verlassen.« Er wirkte allein, verlassen und verloren. Als ob er nicht ganz wisse, was er mit sich anfangen solle, nachdem an die Tür seines Kinderzimmers geklopft worden war. Vielleicht war das nur ein Wunschgedanke, aber mir schien, wir saßen alle in derselben verdammten Achterbahn.
Kurz darauf stand der Teufelskerl zusammen mit dem Schauspieler und drei anderen Typen draußen vor dem Café Kultur und versuchte,eine Mitfahrgelegenheit zu der Party zu finden, die bei dem einen von den dreien zu Hause stattfinden sollte. Der war ein schwarzhaariger, bärtiger, streikender Hüne, der von mir nicht gerade begeistert war und wiederholt sagte: »So was kommt mir nicht nach Haus«, und dabei ständig an meinem Arm zerrte. Der Schauspieler machte uns miteinander bekannt, sagte nachdrücklich, was für ein Teufelskerl ich doch sei und dass ich selbstverständlich mit zu dem Hünen nach Hause kommen solle. Das besänftigte ihn ein wenig, doch er zerrte weiter an mir herum, allerdings mehr um mich kennenzulernen, als um mir zu drohen.
Die Party fand in einem völlig alltäglichen Reihenhaus etwas oberhalb im
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