Liebe Isländer: Roman (German Edition)
über die Grenzen der Stadt hinauswagen. Sie glauben, es sei auf dem Lande viel kälter als in Reykjavík. Überdies scheintder Anorak eine Art Erklärung sein zu wollen: »Wir sind genauso wie ihr. Staffieren uns nicht heraus, sondern halten nur die Kälte von uns fern und beteiligen uns nicht mehr am Modewettstreit als die Akureyrer.« Allerdings hatte das genau den gegenteiligen Effekt. Niemand ging in Akureyri im Anorak aus, um sich zu vergnügen, und der Anorak wurde zu einer Verkündigung, dass alles in Akureyri lächerlich und es daher in Ordnung wäre, im Anorak auszugehen. Die meisten Reykjavíker waren zum Skilaufen hier, so dass an den Reißverschlüssen die Tageskarten baumelten und unübersehbar signalisierten: »Schaut, was ich heute gemacht habe!« Diese Leute fahren sicher auch im Süden Ski, aber dort gehen sie abends niemals im Anorak aus. Das waren verdammte Heuchler. Sie um mich zu haben erstickte die Abenteuerlust in mir und ließ es furchtbar einfallslos erscheinen, überhaupt hier zu sein.
Ein Tag auf Hrísey
Das Wochenende verging, ohne dass ich mein Auto zurückbekam. In nicht wenigen Telefonaten, die ich mit dem Automechaniker führte, sagte er entweder, dass die Reparatur »fast fertig« sei oder dass er einfach nicht verstehe, »was das sein könnte«. Obwohl er den Vergaser gereinigt, Zündkerzen und Platinen ausgewechselt und alles überprüft habe, bekomme er den Motor nicht richtig in Gang. Ich war kurz davor, die Nerven zu verlieren, und befürchtete, ich müsste die nächsten Wochen in Akureyri herumhängen, bis die Ersatzteile aus Schweden eintrudelten. Außerdem kosteten mich der Schlafsackplatz und die Reparatur jeden Tag eine Stange Geld. Was ich jedoch am schlimmsten fand, war, dass meinen Mechaniker dieses unerklärliche Problem offenbar zu faszinieren schien. Er war zu begeistert, wenn er darüber sprach. So als ob er endlich ein Aufgabe gefunden hätte, die ihn genug forderte und für die er sich genügend Zeit nehmen würde, um dem Problem mal so richtig auf den Grund zu gehen. Ich wiederholte mehrfach, das Studio in Húsavík könne jetzt nicht länger warten.
Zwischen den Telefonaten schlug ich mich damit herum, etwas zu finden, was ich in der Stadt unternehmen konnte, doch nach dem zweiten Mal im Solarium und einem Kinobesuch gab ich es auf und hing nur noch in der Jugendherberge ab. Entweder schrieb ich in mein Tagebuch oder ich versuchte den Fernseher einzustellen, der zwar Funkkanäle empfing, aber nicht mal Fernsehprogramm 1. Am Montag bekam ich dann eine Klaustrophobieattacke und begann mit mir selbst zu sprechen. Ich sagte: »Ich hätte gern ein Krabbensandwich.« Und nach einem weiteren Telefonat mit meinem Schrauber, der nocheinmal versicherte, dass das Auto bald fertig sein müsste, beschloss ich, diesen Tag der Insel Hrísey zu widmen.
Ich nahm den Bus nach Árskógssandur. Nach der Hälfte der Fahrt hörte ich im Radio, dass Halldór Laxness gestorben war. Obwohl das Wetter wunderschön war, schien alles etwas leerer nach dieser Nachricht, und der Rest des Tages verging in Schweigen. Das Land zeigte sich von seiner schönsten Seite und bot einen irgendwie demütigen Anblick. Der Eyjafjörður tiefblau, die Berge ringsum schneeweiß. Der Himmel wolkenlos und der Wind still. Alles schien Laxness die Ehre zu erweisen.
Das Meer war spiegelglatt auf dem Weg hinaus zur Insel, die sanft unter einer dicken Schneedecke schlief. Möwen schwebten der Fähre entgegen und lotsten sie in den Hafen. Vier Kinder mit Schultaschen auf dem Rücken liefen vorbei, und als sie verschwunden waren, Gott weiß wohin, sah ich drinnen in der Fischfabrik einen Mann am Fließband stehen. Er trug Ohrenschützer auf dem Kopf und schien das verpasst zu haben, was alle anderen gehört hatten, und war daher nicht verschwunden, Gott weiß wohin. Ansonsten gab es nur mich und das taktfeste Rauschen des Meeres.
Nachdem ich mich versichert hatte, dass die Inselbewohner nicht alle in der Kirche zusammengekommen waren, setzte ich mich auf die Stufen davor und schaute über den Eyjafjörður. Welch eine Schönheit, Ruhe und Stille. Das Schweigen beinahe massiv. Vielleicht war das einfach so an diesem Tag, da Hrísey ein Fischereidorf ist und der Streik immer noch anhielt. Vielleicht auch aus irgendeinem anderen Grund. Ich beobachtete die Sonne, wie sie langsam und ehrwürdig hinter den weißen Bergen versank, die geneigt aus dem blauen Fjord herausragten. Kurz danach brach ein rötlicher
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