Liebe Isländer: Roman (German Edition)
des Landes, wohnte, die Taktik zu ändern. Mich einfach vorzustellen, ungefragt zu erklären, wohin ich unterwegs und warum ich gekommen war. Natürlich ging das viel besser.
Helgis Sohn bat mich sofort herein und stellte mich seinem Vater vor, der an einem Tisch in einer großen hellen Küche saß: »Das ist der Sohn von Hulda, der Schwester von Stjáni Jóns Magga.« Obwohl ich halbwegs verwirrt war davon, all das zu sein, erfasste Helgi die Bekanntmachung sofort und beobachtete mich mit schelmischen Augen, während ich mich setzte. Vor ihm stand eine randvolle Kaffeetasse, und ich überlegte, wie er wohl daraus trinken würde, ohne etwas zu verschütten. Doch er nahm die Tasse hoch mit seinen Händen, die sich durch ein ganzes Jahrhundert gestreckt hatten, kippte sie ein wenig, so dass etwas Kaffee auf die Untertasse rann, und führte sie dann zum Mund. Na klar, die einhundertzwei Jahre alte Methode.
Der Sohn setzte sich an den Tisch, und wir unterhielten uns eine Weile, bevor ich mich an Helgi wandte und fragte, ob es nicht ein gutes Gefühl sei, als der älteste Mann des Landes zu gelten.
»Ist daran was Beneidenswertes?«, fragte der Sohn und lachte. Erwar ein Mann um die sechzig, fröhlich und immerzu lächelnd hinter seinem Vollbart. Es deutete ja auch alles darauf hin, dass er gerade einmal die Hälfte seines Lebens hinter sich hatte.
Helgi überlegte lange, bevor er antwortete. »Nein, im Grunde nicht.«
»Im letzten Jahr gab es jemanden, der in irgendeiner Zeitung behauptete, er wäre älter als Papa. Der ist dann einen Tag später, als die Zeitung erschien, gestorben«, sagte der Sohn, und die beiden lachten aus vollem Halse.
Helgi sagte wenig, hörte aber zu und goss weiter Kaffee auf die Untertasse. Über seinem Gesicht lag eine selige Ruhe. So als ob der ganze Charakter des Mannes in seinem gealterten Gesicht sichtbar würde und Vollkommenheit erlangt hätte. Als er die Tasse geleert hatte, ging er langsam aus der Küche hinaus und verschwand in der Diele, von wo bald die Handballübertragung aus dem Fernseher herüberschallte. Er schaute aber kurz danach wieder rein und sagte: »Sigurður Sveinsson wirft ein Tor nach dem anderen. Er ist immer noch der Beste.« Dann ging er wieder nach vorn in die Diele, und danach sah ich ihn nicht noch einmal.
Ich blieb sitzen und hörte dem Sohn zu, der von der Traberkrankheit sprach, die vor kurzem erneut im Tal ausgebrochen wäre. Die neueste Theorie war die, dass die Traberkrankheit durch Heumilben übertragen würde. Selbst hielt er davon nicht viel und konnte sich nicht erklären, warum die Krankheit wieder und wieder aufflammte, obwohl sowohl die Scheunen als auch die Ställe abgebrannt wurden. Der Sohn von Hulda, der Schwester von Stjáni Jóns Magga, hatte darauf auch keine Antwort.
Auf dem Rückweg hielt ich auf Tjörn und hoffte, dass der Buchhändler mit offenen Armen empfangen würde, da schließlich die Wurzeln des Schriftstellers Þórarinn Eldjárn auf diesen Hof zurückführen. Aber der Mann, der an die Tür trat, sagte, er habe gerade eine ganze Kiste Bücher vom Verlag Iðunn gekauft: »Nein, vielen Dank.« In der Hoffnung, dass dem Mann wenigstens nach einer kleinen Unterhaltungvor dem Haus wäre, fragte ich, ob ich mir die wunderschöne Kirche gleich neben dem Anwesen ansehen dürfte. »Ja, unbedingt. Bitte, nur zu. Sie ist offen.« Dann verabschiedete er sich und schloss die Tür.
Während ich durch Schneewehen stapfte, die mir bis zur Hüfte reichten, fragte ich mich, wozu ich das alles überhaupt machte. Ich interessiere mich nicht für Kirchen und gehe auch nie zum Gottesdienst. Ich hatte nicht einmal Interesse an Architektur. Das musste etwas mit der Erziehung zu tun haben. Kirchen mussten angesehen werden. Doch wozu? Möglicherweise, weil meistens nichts anderes Sehenswertes da war. Wahrscheinlich, um irgendwann einmal an irgendeinem Küchentisch sitzen zu können und zu sagen: »Ach. Seid ihr auch dort gewesen? Hat euch die Kirche nicht auch gefallen?« Sie waren wie ein Stempel im Reisepass.
Dochdoch, die Kirche von Tjörn ist hübsch, winzig klein und fasst vielleicht dreißig Personen. Ich stand darin und sah um mich und wartete so lange, bis mindestens fünf Minuten vergangen waren. Dann steckte ich auf dem Weg nach draußen hundert Kronen in die Kirchenkasse. War das nicht auch etwas, das sich so gehörte?
In der Nacht hallte Munchs Schrei durch den Eyjafjörður. Die Dachluke von Lappi flog auf und brach ab. Am
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