Liebe Isländer: Roman (German Edition)
bist du auf dem Weg, in dich selbst abzutauchen und absolut begeistert davon, was die Haut doch für ein phänomenales Organ ist. Wie Leder. Dehnbar und alles. Repariert sich selbst, wenn sie einreißt. Seltsam. Und die Haare, woher kommt das Haar? Finger sind merkwürdig, biegsam. Wer hat entschieden, dass es fünf sein sollen? Ein Glück, dass die Haut dehnbar ist. Sonst wäre es nicht möglich, die Finger zu beugen. Du bist Materie.
Zum Schluss spürst du, wie die Haut zu einer greifbaren Grenze zwischen dir und allem anderen geworden ist. Nimmst die Bewegungen im Gehirn wahr, bemerkst jedes einzelne Mal, dass du mit den Augen blinzelst, und bekommst eine heftige Anwandlung von Klaustrophobie. Du bist dabei, in dir selbst zu ersticken, und ein Verlangen ergreift dich, deinen Körper aufzuschlitzen, aus ihm herauszuspringen, über alle Berge zu rennen. Dir erscheint es unwahrscheinlich, dass du dich heute findest.
Und du willst nicht eher abreisen, als bis das erledigt ist? Ist es nicht genau diese Frage, die dich daran hindert weiterzumachen? Bestimmt findest du hier in Zimmer 11 auch keine Lösungen und keine Antworten, selbst wenn du hundert Jahre nachdenkst, nicht mehr alsin den Cafés der Stadt oder den Straßenkiosken der Dörfer. Und wie du dasitzt und wartest und versuchst, dir eine Farbe auszuwählen, geht das Spiel weiter. Alles geht fort. Alles geht weiter. Unabhängig von dir.
Natürlich weißt du, dass du sowohl einzigartig als auch brillant bist und dass vielleicht genau deshalb alles so schwierig ist. Je abgegriffener dieses Gefühl wurde, desto stärker ist deine Vermutung geworden, dass du sogar ein Genie sein könntest. Genau deshalb ist es so kompliziert. Wenn du dich dann erst einmal gefunden hast, wirst du alles und alle überflügeln. Schließlich hast du großartige Ideen, einen ziemlich guten Geschmack, bist so anders. Auch wenn der Siedepunkt noch nicht ganz erreicht ist.
Doch wahrscheinlich bist du nur ein Genie von vielen und hast die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Entweder weiter in deiner ganzen Brillanz stillzusitzen oder die Reise fortzusetzen. Über Höhen und Geröll und Berghänge. Fortzufahren. Den Isländer in deinem Innern anzusammeln und dich selbst zu sammeln. Weiterzureisen in eine unbestimmte Zukunft. Zu verweilen und zu berühren. Zu wagen und zu probieren. Zu sein. Mit den Tagen anzubändeln und sie nicht zu verschlafen nach durchwachten Nächten mit Betrachtungen über dieses: »Wer bist du?« Und vor allem dieses erdrückende Fragezeichen wegzuwerfen. Morgens einfach aufzuwachen und zu sagen: Du bist wer!
Das hast du nun endlich herausgefunden. Als fünfundzwanzigjähriger Mann. Herzlichen Glückwunsch. Jetzt gießt du dir Kaffee in eine Tasse und willst in den Flur gehen, um fernzusehen. Bemerkst aber, dass du beim Gehen eher mit dem Kaffee kleckerst, wenn du dabei auf die Tasse in deiner Hand schaust. Du verlierst dabei die Balance, und der Kaffee schwappt über. Schaust du nicht auf die Tasse, sondern weißt nur von ihr, bleibt er an seinem Platz.
Am nächsten Morgen herrscht völlige Windstille. Du ziehst die Vaterländer an und siehst, dass die Wolle bei der Wäsche eingelaufen ist. Du rollst den Schlafsack zusammen und trägst das Gepäck hinaus zumWagen. Bezahlst dann für das Zimmer und erhältst von der Hotelleiterin Informationen über die Werkstatt. Während du den Kartenbeleg quittierst, fragt sie: »Und, hast du dich selbst da oben gefunden?«
Du siehst sie überrascht an und sagst dann: »Nein, aber ich habe gelernt, den Kaffee in der Tasse zu halten.«
Ostreich
Die nächsten drei Tage blieb das Wetter ausgezeichnet, und ich genoss es, einfach zu fahren und zu fahren. Saß hinter dem Steuer und betrachtete das vorüberziehende Ostland, ohne dass irgendetwas Besonderes meine Aufmerksamkeit erregte. Alles floss ineinander. Der bewölkte Himmel mit den weißen Hängen mit den glatten Straßen mit dem Zigarettenrauch und die Motorenklänge mit
Kanal 1
. Alles floss ineinander. Lappi, ich, Island. Alles war zugleich sowohl nah als auch fern. Eine Fliege summte um mein Ohr. Der Automechaniker am Mývatn hatte einen Schlauch repariert, der vom Turbo abging, danach lief der Wagen genauso sanft wie alles andere im Ostreich.
Ich übernachtete zu Hause bei dem Gärtner Björn am See Lagarfljót. Abends spielten wir Casino, und tagsüber unternahm ich Spritztouren, um die Fjorde ringsum zu sehen. Ich sage sehen, nicht ansehen, denn ich fuhr nur
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