Liebe Isländer: Roman (German Edition)
Kartoffeln. Er erinnerte sich an Mao, Stalin und Hannibal Valdimarsson. Ich erinnerte mich an Versace, Cobain und River Phoenix und hatte den Eindruck, mich mein ganzes Leben lang in schlechter Gesellschaft befunden zu haben.
Doch um mein Ohr summte diese Fliege, und ich genoss es, herumzufahren. Die Hände über das knubblige Lenkrad gleiten zu lassen. Das Auto in Gang zu bringen. Zu spüren, wie das Bremspedal ein bisschen zurücksprang, wenn man drauftrat. Das besäuselnde Geräusch des Motors mit dem Dauerdröhnen der Spikes auf der Straße verschmelzen zu hören. Den dumpfen Benzingeruch, vermischt mit dem Vinylaroma des Armaturenbretts wahrzunehmen. Ein bisschen imweichen Sitz auf und ab zu hüpfen. In blaue Fjorde hinabzublicken, über weiße Berge, hinauf an braunen Hängen. Zu sehen, wie die Kilometerzahl wächst, das Land vorüberzieht, und mit allem zu verschmelzen. Auf den Gehsteigen von Reyðarfjörður gingen Elfen und Cowboys und Ninjas und Dinosaurier und Spice Girls entlang, und im Gasthaus Egilsbúð in Neskaupstaður sangen hundert angemalte Kinder das Pups-Lied im Chor. In einem Fenster des Straßenkiosks in Eskifjörður hingen drei Anzeigen: »Stratz-Sonnenbank eingetroffen!« – »Aerobic-Kurs – bei Erreichen der Mindestteilnehmerzahl« und »Heute Krönung des Katzenkönigs in der Schule«. Es war Aschermittwoch. Von diesen drei Orten fand ich Eskifjörður eindeutig am schönsten. Die Häuser waren alt und die Bergkette rings um den Fjord schaurig und großartig zugleich. Neskaupstaður war dagegen ein grauschimmliger Ort, und die einzigen Farben, die ich erblickte, lächelten in den bemalten Gesichtern der Kinder. Aber es hatte doch etwas Abgefahrenes, wenn man über eine der höchsten Bergstraßen des Landes, durch Gebirgstunnel und Skigebiete fahren musste, um von zu Hause weg und wieder dorthin zu gelangen. Man schien dadurch abzuhärten. Jedenfalls haben die Kinder das Pups-Lied mit größter Inbrunst gesungen, und sie pfiffen auch sonst auf alles. Reyðarfjörður war eine Art Mixtur aus den beiden anderen Orten, und in allen dreien kräuselte sich der Rauch aus den Schornsteinen der Kapelan-Fabriken und verwob sich mit dem Gelächter vom Reeder Alli dem Reichen, das durch die Fjorde schallte.
An meinem dritten Tag in den Ostfjorden fuhr ich nach Seyðisfjörður. Der Ort bildet ein breit lachendes U, und sein Herz wird von einer kleinen Insel und zahlreichen verfallenen und frisch sanierten Wellblechhäusern gebildet. Tatsächlich blieb ich nur eine Stunde und saß die meiste Zeit davon im Straßenkiosk. Fand, ich müsste dort ein wenig Zeit verbringen, nachdem ich schon über die Fjarðarheiði gefahren war, und beobachtete einen Seehund, der sich an einem Hafenpoller draußen räkelte. Er war mein Freund.
Als ich wieder zu Hause bei Björn ankam, sagte er, dass zum Abend ein Unwetter aufkommen sollte und dass es sich über Nord- und Nord-Ost-Island erstrecken und einige Tage andauern würde. Die Fliege versteckte sich. Das verdammte Wetter. War es zu viel verlangt, um eine Woche ohne Unwetter zu bitten? Ich hatte während Björns Wache geschlafen und heute Morgen die Wettervorhersage nicht gehört. Das hatte ich mir selbst zuzuschreiben. Ich müsste längst gelernt haben, dass die isländischen Wettergottheiten ganz besonders launisch sind. Jederzeit trieben sie irgendwelche Possen, und Island war scheinbar ihr Versuchsgelände. »Hey, Jungs! Sollen wir verrückten Regen und wahnsinnigen Sturm ausprobieren und dann den Regen schlagartig in Schnee umwandeln und gleichzeitig die Sonne scheinen und die Temperatur auf 13 Grad unter null fallen lassen?« Das war ein ewiges Geflippe.
Mir gefiel die Situation nicht. In der Broschüre des Straßenamtes hieß es, dass die Breiðdalsheiði nur zwei Mal die Woche geräumt wird. Wenn das Wetter einige Tage anhielt, würde das Räumen ein, zwei Tage dauern, wenn es dann überhaupt endlich so weit wäre. Wenn das Wetter nur zwei Tage anhielt, könnten mehrere Tage vergehen, bis sie mit der Räumung begännen. Wie auch immer es käme, es konnte fünf bis sechs Tage Verzug bedeuten, und darauf hatte ich keine Lust, jetzt, da ich die direkte Umgebung schon gesehen hatte. Außerdem kann man nichts anderes tun als abhängen, solange ein Unwetter wütet.
Ich hatte zwei Möglichkeiten: entweder zu warten, bis das Unwetter vorübergezogen und geräumt worden war, oder zu versuchen, gleich weiter nach Süden zu fahren und ihm so zu entkommen.
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