Liebe ist ein Kleid aus Feuer
wirren Gedanken wieder klarer. Bei scharfer Überlegung kam nur ein Einziger als Dieb infrage. Und hatte er ihn mit seinem Prahlen nicht selber dazu getrieben? Wäre alles nach Plan verlaufen, er könnte jetzt geradewegs zum König gehen und aussagen, was er wusste. Doch leider hatten sich die Dinge anders entwickelt als erwartet.
Raymond war mit anderen Rittern zu Liudolf übergelaufen; niemand konnte ihn gegenwärtig belangen. Ihn jetzt zu beschuldigen, wäre daher sinnlos. Außerdem stand ohnehin seine persönliche Rechnung mit dem Grafen noch offen, wobei er sich mehr als bisher den unversöhnlichen Hass zunutze machen wollte, den der rote Mönch gegen Raymond hegte. Dazu kam, dass Otto selber drauf und dran war, nach Italien zu ziehen. Der Strick durfte nicht darauf bauen, dass die beiden verfeindeten Lager sich jenseits der Alpen gegenüberstehen würden und sich somit dort eine Konfrontation lohnen würde. Er musste sich folglich in Geduld fassen, auch wenn es noch so schwer fiel; zu viele Unwägbarkeiten gab es, auf die er keinerlei Einfluss nehmen konnte.
Eines jedoch stand fest: Würde er Otto jetzt das leere Reliquiar präsentieren, der Verdacht fiele augenblicklich auf ihn – oder auf Rochus, den Boten seiner Wahl, was keinen allzu großen Unterschied machte. Zum Glück hatte er stets das zweite, dem ersten zum Verwechseln ähnliche Kästchen bei sich. Eigentlich für einen anderen Zweck vorgesehen, musste er es jetzt opfern, musste alles auf eine Karte setzen, wenn er nicht alles verlieren wollte.
Seine Finger wurden ruhiger, als sie die Haken an der Rückseite des Reliquiars lösten. Dann nahm er das zweite Kästchen, stellte es hinein und verschloss den Behälter wieder.
Von außen war kein Unterschied zu erkennen. Er überprüfte es ausgiebig von allen Seiten. Niemand würde den Austausch bemerken. Doch was, wenn Otto darauf bestand, das Reliquiar zu öffnen, um sich vom heiligen Inhalt zu überzeugen?
Der Strick beschloss, in die Donau zu steigen, die unter der Königspfalz floss, bevor er mit dem Reliquiar und seiner Lüge vor den König treten würde. Wenn schon der Kopf nicht kühl zu bekommen war, dann in den Fluten des großen Flusses zumindest sein Körper.
Sein Mund verzog sich. Oftmals schon hatte er das Schicksal herausgefordert, doch heute fühlte er sich verletzlicher dabei als sonst. Seine Zukunft stand auf Messers Schneide.
Zum ersten Mal seit langem war der Strick nahe daran zu beten.
AUGUST 951
KLOSTER CORVEY
» Aranmanoth, so haben die Sachsen ihn früher genannt. Was nichts anderes als Erntemonat bedeutet. Und daran müssen wir uns fleißig halten. Denn der Winter kommt schneller und härter, als uns lieb sein kann. Hörst du mir überhaupt zu, Lando?«
Er hörte sie, die Stimme, die schrill in seinen Ohren klang und unangenehm, aber er konnte ebenso wenig mit ihr anfangen wie mit den Früchten in seiner Hand, die sich leblos anfühlten. Trotzdem fuhr er damit fort, die Brombeerhecke abzupflücken, wie man es ihm aufgetragen hatte.
Plötzlich ein Rütteln an seiner Schulter.
»Willst du sie alle zermatschen? Pass doch auf, du Tölpel! Auch diese wunderbaren Beeren sind ein Teil von Gottes Schöpfung!«
Bruder Aedgit sah hässlich aus, wenn er wütend wurde, was leicht der Fall sein konnte. Dann wölbten sich seine wulstigen Lippen wie bei einem Frosch, und auf der niedrigen Stirn kerbten sich tiefe Falten ein. Am eindrucksvollsten jedoch waren seine Augen – sie standen noch stärker vor und wurden so tiefbraun, dass man beinahe in ihnen ertrinken konnte.
Lando wandte sich ab und pflückte ungerührt weiter, kaum behutsamer als bisher.
Jetzt riss ihn der Bruder grob von der Hecke zurück. »Was hast du eigentlich früher gemacht, als du noch klar im Kopf warst? Särge gezimmert?« Er seufzte tief. »Das mit den Beeren hat so keinen Sinn. Zieh mir lieber die Steckzwiebeln raus! Ja, dort drüben liegen die Beete. Bei denen kannst du hoffentlich nichts falsch machen. Aber sicher kann ich mir bei einem Tropf wie dir nicht einmal dabei sein.«
Lando war schon halb am Gehen, da wandte er sich noch einmal um. Etwas von dem, was der Mönch geäußert hatte, hatte ihn berührt. Normalerweise hörte er gar nicht genau hin, weil er sein ständiges Nörgeln und Schimpfen nicht mochte, aber das von eben war tiefer gedrungen.
»Feuer«, sagte er. »Feuer!« Danach schlurfte er zu den Zwiebelbeeten.
»Es wird immer schlimmer mit ihm, anstatt besser, findest du nicht?« Es tat
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